Ein Mädchen im Gazastreifen hält eine geöffnete Dose mit Nahrung in der Hand.

33 Wochen Konflikt:
Gaza gehen die Lebensmittel aus

Die humanitäre Krise im Gazastreifen eskaliert in rasantem Tempo. Ständige Angriffe aus der Luft, vom Land und vom Meer aus bedrohen Leben und zerstören das Wenige, was im Gazastreifen noch übrig ist. Diejenigen, die bislang überlebt haben, sind mit tödlichem Hunger konfrontiert.  

Interview mit Gaza-Experte: „Wird die Hungersnot ausgerufen, ist es bereits zu spät“

Um mehr zu erfahren, haben wir mit einem unserer Experten für die humanitäre Krise in Gaza gesprochen. Aus Sicherheitsgründen bleibt die Person anonym.

Müll vor einer Mauer im Gazastreifen rund um eine grüne Pfütze.
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Im Gazastreifen werden 75 Prozent der festen Abfälle auf unoffiziellen Deponien entsorgt, ohne dass es Kontrollen oder eine Hygieneinfrastruktur gibt.

Können Sie uns zunächst einige Hintergrundinformationen zur Lage in Gaza geben?  

Nach Beginn des Konflikts Anfang Oktober haben innerhalb von drei Monaten über 21.000 Menschen in den palästinensischen Gebieten ihr Leben verloren. Mehr als 36.000 Erwachsene und Kinder in Gaza wurden getötet, das sind etwa 154 pro Tag seit Beginn der Konflikteskalation. Weitere 81.000 Menschen wurden verletzt, darunter Frauen, Kinder, medizinisches Personal und Mitarbeitende humanitärer Hilfsorganisationen.

Wir haben es auch mit massiven Vertreibungen zu tun. Was geschieht hier?  

Mindestens 85 Prozent der Bevölkerung sind gezwungen, immer wieder zu flüchten. Einige unserer Mitarbeitenden sind fast ein Dutzend Mal umgesiedelt worden.

Seit Oktober wurden mehr als 70.000 Häuser zerstört. 1,7 Millionen Menschen sind in dicht besiedelten, unhygienischen Lagern zusammengepfercht sind.

Viele Familien wurden mehrmals zwangsumgesiedelt und zogen von einem provisorischen Lager zum nächsten. Allein im Mai wurden etwa 800.000 Menschen aus Rafah vertrieben. Viele Menschen suchen Zuflucht in Vertriebenenlagern, wo sie mit immer mehr Krankheiten zu kämpfen haben, von Durchfall über Atemwegsinfektionen bis hin zu Gelbsucht.

Aufgrund der militärischen Invasion in Rafah können Verwundete und Kranke kaum noch behandelt werden. Das An-Najjar-Krankenhaus, das über eine Kapazität von 220 Betten verfügte, ist nicht mehr nutzbar. Heute ist das kuwaitische Krankenhaus mit 36 Betten die wichtigste Anlaufstelle für Menschen mit Traumata. Mit der Intensivierung der Militäroperationen in den letzten zwei Wochen sind die täglichen Arztbesuche um 40 Prozent zurückgegangen.

Wie reagieren unsere Mitarbeitenden auf die Krise?  

Aktion gegen den Hunger ist seit 2005 in der Region tätig, daher konnten wir Anfang Oktober sofort mit unserer Hilfe beginnen. Die Teams haben Wasserwagen mit lokalen Lieferanten herbeigeschafft und Wasserflaschen verteilt, wann immer es welche gab. Wir haben auch warmes Essen in Krankenhäusern verteilt, insbesondere für stillende oder schwangere Frauen und ihre Kinder. Unsere Teammitglieder haben unzählige Herausforderungen bewältigt und unglaubliches Leid erlebt. Sie sind nichts weniger als Helden und Heldinnen.

UNSERE ARBEIT IN GAZA UNTERSTÜTZEN

Ein Mitarbeiter von Aktion gegen den Hunger trägt Tüten aus einem Lebensmittellager zusammen mit anderen Helfenden in Rafah im Süden Gazas.

Im Gazastreifen leidet die halbe Bevölkerung unter katastrophalem Hunger, der schwersten Krisenstufe. Unsere Teams verteilen Lebensmittel, Wasser, Hygienesets und andere lebensnotwendige Güter und setzen ihre Arbeit trotz aller Risiken fort.

 

JETZT SPENDEN

Die Hungerraten in Gaza steigen. Wie kommt das?  

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) musste die Verteilung von Nahrungsmitteln in Rafah aufgrund von Engpässen einstellen. In Gaza sind nur noch zehn Bäckereien in Betrieb, die jedoch gefährdet sind und denen möglicherweise bald der Brennstoff zum Backen ausgeht. Die WHO-Generaldirektorin bezeichnete die Situation als „mehr als katastrophal“.

Angesichts der drohenden Hungersnot im Gazastreifen ist Aktion gegen den Hunger eine der wenigen humanitären Organisationen, die sich unermüdlich für die Bereitstellung von Hilfe einsetzen. Trotz des Baus eines neuen Piers durch die Vereinigten Staaten sind der Wareneingang und der Zugang für humanitäre Hilfe weiterhin eingeschränkt. Zwischen dem 1. und 20. Mai wurden nur 50 Prozent der Hilfseinsätze im südlichen Gazastreifen und 37 Prozent der Einsätze im nördlichen Gazastreifen von den israelischen Behörden genehmigt. Oft werden diese Projekte behindert oder gänzlich verweigert.

Wie verteilen unsere Mitarbeitenden die Hilfsgüter zur Deckung des Grundbedarfs?  

Die meisten unserer Verteilungen basieren auf Hilfsgütern, die sich bereits im Gazastreifen befinden. Das liegt an der Vielzahl der humanitären Hindernisse. Es kann äußerst schwierig und riskant sein, in den Gazastreifen hinein- und hinauszukommen, und viele Grenzübergänge sind geschlossen worden.

Wir stimmen uns mit unseren humanitären Partnern ab, um die vorhandenen Hilfsgüter zu verteilen. Dies kann oft länger dauern als erwartet. Kürzlich konnten wir Schutzpakete für Unterkünfte verteilen, die Matratzen, Kissen und Laken enthielten. Allerdings dauerte es vom Beginn des Beschaffungsprozesses in Jordanien bis zur tatsächlichen Lieferung nach Gaza Monate. Es gibt viele Beschränkungen dafür, was in den Gazastreifen gelangen darf und wann wir Hilfe leisten können.

Bedeutet das nicht, dass die Nahrungsmittel im Gazastreifen knapp werden könnten?  

Die Lebensmittelrationen sind weniger vielfältig und weniger nahrhaft geworden. Das ist auch mit unseren Programmen im Norden passiert. Wir waren zum Beispiel nicht mehr in der Lage, Fleisch zu verteilen. Wir hatten keine Eier mehr zur Verfügung. Wir konnten ein paar Wochen lang kein Brot mehr beschaffen oder backen. Daher wurden Dinge wie Oliven, Dosentomaten, Thymian oder Dukkah, ein Gewürz aus Kräutern, Nüssen und Gewürzen, verteilt. Diese Dinge reichen nicht aus, um die Mangelernährung zu bekämpfen.

Wir haben versucht, die örtliche Landwirtschaft wieder in Gang zu bringen, aber der größte Teil des Bodens ist degradiert oder zerstört. Die Landwirtinnen und Landwirte sind nicht in der Lage, frisches Obst und Gemüse auf den von nicht explodierten Bomben übersäten Feldern anzubauen.

Ein Lager in Gaza, vor den Zelten steht das dreckige Wasser.
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Abwässer aus den improvisierten Zeltlagern in Rafah, Gaza, überfluten die Straße.

Wie schnell verschlechtert sich die Lage?  

Vor dem 7. Oktober gab es in Gaza so gut wie keine Mangelernährung. Dass sich die Situation innerhalb von sieben Monaten so verschlechtert hat, wie es heute der Fall ist, mit dem Risiko einer Hungersnot und von Todesfällen durch Verhungern, ist erschreckend.

In Gaza ist der Krieg der Hunger. Hunger ist Krieg. Das ist eine direkte Verbindung. Die Zerstörung der zivilen Infrastruktur, der Zusammenbruch des landwirtschaftlichen Systems und die völlige Abhängigkeit von humanitärer Hilfe – all das ist neu seit dem 7. Oktober. Dies allein zeigt, wie schlimm die Lage wirklich ist.

Wenn die Hungersnot ausgerufen wird, ist es bereits zu spät. Das Warten auf diese Erklärung bedeutet, dass die Menschen bereits gestorben sind und weiter sterben werden – und zu diesem Zeitpunkt können die Menschen nur noch wenig tun. Deshalb ist Prävention so wichtig.

Wird eine Hungersnot ausgerufen, ist es bereits zu spät.

Mitarbeiter von Aktion gegen den Hunger aus Gaza

Reagieren wir auf die Bedürfnisse der psychischen Gesundheit in Gaza?  

Im Moment können die Menschen in Gaza das psychische Trauma, das sie Tag für Tag erleiden, kaum verarbeiten.

Unsere Mitarbeitenden in der psychologischen Betreuung erinnern uns daran, dass es äußerst schwierig ist, sich um die psychische Gesundheit zu kümmern, solange die Menschen nicht über Grundbedürfnisse wie Nahrung und Wasser und einen sicheren Ort verfügen. Dies ist in Gaza nicht der Fall.

Das psychische Trauma dieses Konflikts wird noch mindestens ein Jahrzehnt, 20 Jahre, 30 Jahre danach Auswirkungen haben. Das sind Dinge, die Generationen überdauern können. Aktion gegen den Hunger will so schnell wie möglich auf diese seelische Notlage reagieren, aber der erste Schritt ist ein dauerhafter Waffenstillstand.

Erfahrungen aus Gaza | Aktion gegen den Hunger

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Wie können wir unsere Mitarbeitenden schützen?  

Mehr als 200 Mitarbeitende humanitärer Hilfsorganisationen wurden in diesem Konflikt getötet. Die große Mehrheit davon sind palästinensische Mitarbeitende, die unerkannt geblieben sind.

Wir von Aktion gegen den Hunger setzen uns ständig für die Sicherheit und den Schutz der Teammitglieder von Hilfsorganisationen ein. Wir investieren auch in Hilfsmittel und Schulungen, die zur Sicherheit beitragen können, und wir möchten, dass die Geber verstehen, dass die Finanzierung dieser kritischen und potenziell lebensrettenden Maßnahmen Vorrang haben muss.

Wir arbeiten hart für die Sicherheit unserer Teams. Auch die Menschen aus der Zivilbevölkerung, die wir unterstützen, verdienen es, sicher zu sein. Da jeden Tag Menschen sterben, muss jedes einzelne Teammitglied vor Ort so viel wie möglich tun.  

Wie können wir diese Krise stoppen?  

Zum einen ist es wichtig, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten.

Wir brauchen auch einen effektiven Zugang für humanitäre Hilfe, damit unsere Teams ihre Arbeit fortsetzen und den Menschen in Not helfen können. Vor dem 7. Oktober dauerte es eine Stunde, um von Rafah nach Gaza-Stadt zu gelangen. Heute dauert es sechs Stunden, und darin sind die zwei bis drei Stunden nicht enthalten, die die Helfer manchmal an den Kontrollpunkten verbringen.

Ein dauerhafter und sofortiger Waffenstillstand ist nicht nur das notwendige Ziel. Er ist der erste Schritt. Nur so ist es möglich, die Zivilbevölkerung und die Mitarbeitenden von Hilfsorganisationen zu schützen.

Unsere Teams verteilen Wasser an Menschen in Gaza.
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Unsere Teams verteilen Wasser an Menschen in Gaza.

Über Aktion gegen den Hunger in den besetzten palästinensischen Gebieten

Aktion gegen den Hunger ist seit 2005 im Gazastreifen und seit 2002 im Westjordanland tätig. Seit dem 7. Oktober haben wir über 837.000 Menschen im Gazastreifen erreicht, davon über 709.000 mit Wasser-, Sanitär- und Hygieneprogrammen (WASH). Unsere Hilfe umfasst die Verteilung von warmen Mahlzeiten und Hygienepaketen, den Transport von sauberem Wasser in die Gemeinden, die Vermittlung von Unterkünften und die Unterstützung bei der Beseitigung von Feststoffabfällen. 

Für die Menschen in Gaza und weltweit
10. JUNI 2024
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