Zwei Menschen stehen vor einem Brotregal in einem Supermarkt.

„Das Recht auf Nahrung wird in Deutschland nicht ausreichend geschützt.“

Während weltweit die Anzahl hungernder Menschen steigt, wachsen die Profite vieler Unternehmen, die mit Lebensmitteln handeln. Auch in Deutschland sind die Lebensmittelpreise in den vergangenen Jahren massiv gestiegen. Die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen hat die Entwicklung von Ernährungsarmut und Lebensmittelpreisen in Deutschland beobachtet und in einem Bericht analysiert. Wir haben uns mit Silvia Monetti, Teamleiterin Lebensmittelpreise und Ernährungsarmut bei der Verbraucherzentrale NRW (VZ NRW) und Co-Autorin des Berichts, unterhalten.  

„Die Lebensmittelpreise wurden in manchen Fällen deutlich mehr erhöht, als es notwendig gewesen wäre, um gestiegene Produktionskosten zu kompensieren.“

Silvia Monetti, Verbraucherzentrale NRW

Über Lebensmittelpreise und Ernährungsarmut in Deutschland

Können Sie eingangs erst einmal erklären: wie entstehen denn überhaupt Lebensmittelpreise? 

Silvia Monetti (SM), VZ NRW: Das würden wir auch gerne wissen. Was wir kennen sind die Preise, die Landwirte und Landwirtinnen in Deutschland für ihre Erzeugnisse bekommen und die Verbraucherpreise am Regal – aber was dazwischen passiert, gleicht einer Blackbox.  

Es gibt natürlich viele Faktoren, die eine Rolle spielen: Energie- und Rohstoffpreise, Lohnkosten, Großhandelspreise, die Nachfrage. Wertschöpfungsketten können kompliziert und je nach Produkt, zum Beispiel bei Kaffee und Schokolade, sehr lang sein und viele Akteur:innen involvieren, auch in anderen Kontinenten. Auf dem Markt treffen Akteur:innen mit unterschiedlicher Macht aufeinander. Aber wer an welcher Stelle wie viel genau verdient und wie am Ende die Preise zustande kommen, können wir letztendlich nicht sagen.

In Ihrem Bericht beobachten Sie eine interessante Dynamik zwischen Inflation, Lebensmittelpreisen und Unternehmensgewinnen. Können Sie darauf einmal eingehen?

SM: Was Lebensmittel angeht, war Deutschland eigentlich immer eher ein Niedrigpreisland. Zwischen 2000 und 2019 sind die Lebensmittelpreise beispielsweise sehr wenig gestiegen. Daher war es eine große Überraschung zu beobachten, wie sie ab dem Sommer 2021 begonnen haben, zu steigen – zunächst moderat und seit Anfang 2022 sehr stark. Die Lebensmittelteuerung hat also bereits lange vor dem Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine deutlich an Fahrt aufgenommen.  

2023 hat sie sich dann sogar von der gesamten Inflation abgekoppelt. Im März 2023 hat sie den Rekordwert von +22,3 Prozent erreicht, Lebensmittel waren monatelang die Haupttreiber der Inflation. Das heißt, die Lebensmittelpreise sind schneller gestiegen als die Energiepreise. Analysen und Studien haben dann nach und nach gezeigt, dass sich einige dieser Preisentwicklungen nicht allein durch gestiegene Rohstoff- und Energiepreise, höhere Lohnkosten oder gestörten Lieferketten erklären ließen.  

Wir können hier keine genauen Namen kennen, weil wir eben die Wertschöpfungsketten nicht transparent nachvollziehen können. Aber wir können ziemlich sicher festhalten, dass manche Unternehmen von der Krise profitieren konnten: Die Lebensmittelpreise wurden in manchen Fällen deutlich mehr erhöht, als es notwendig gewesen wäre, um gestiegene Produktionskosten zu kompensieren.

Jeder Mensch hat ein Recht auf Nahrung – dafür setzen wir uns ein! Jetzt mit uns Gesicht zeigen gegen den Hunger:

 

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Eine Person steht mit Einkaufskorb vor dem Gemüseregal in einem Supermarkt.
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„Kann ich mir das frische Gemüse leisten?“ Die Lebensmittelpreise sind zwischenzeitlich schneller gestiegen als die Energiepreise. Für viele Menschen auch in Deutschland bedeutet das, vermehrt Abstriche beim Einkauf machen zu müssen.

Wie bewerten Sie diese Macht von Unternehmen über die Preise, die wir alle für Lebensmittel aufbringen müssen?  

SM: Wir leben in einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Unternehmen haben natürlich ein Interesse daran, ihre Profite zu schützen und zu steigern – das ist an sich auch nichts Verwerfliches. Das Problem ist, wenn das, was für ein Unternehmen gut ist, sich nicht damit deckt, was für das Gemeinwohl gut ist. Unternehmen sind nicht verantwortlich für die Preisanstiege ausgelöst durch Pandemie und Ukraine-Krieg – aber manche haben durch ihre Preisgestaltung die Auswirkungen auf Markt und Verbraucher:innen massiv verstärkt. Die Last der Preiserhöhungen musste von den sinkenden Real-Löhnen der Menschen getragen werden.

Welche Verantwortung sehen Sie da bei der Politik?

SM: Die Politik hat die Pflicht, das Gemeinwohl und das Wohlergehen der Menschen zu schützen. Wenn die Schlangen vor den Tafeln aber immer länger werden, dann ist klar, dass die Politik diese Verantwortung nicht übernimmt. Als Verbraucherzentrale fordern wir deswegen mehr Transparenz bei der Lebensmittelpreisbildung, zum Beispiel durch eine Preisbeobachtungsstelle. Wir müssen verstehen, wie Lebensmittelpreise zustande kommen, um dann, falls nötig, auch intervenieren zu können.

Ein weiterer zentraler Punkt ist der finanzielle Zugang zu guten Lebensmitteln – also Nahrung, die sich positiv auf unsere Gesundheit und die des Planeten auswirkt. Hier muss auch die Berechnungsgrundlage des Bürgergelds dringend geändert werden, denn die realen Kosten für eine gesunde und vielleicht auch nachhaltige Ernährung spielen da gar keine Rolle. Dabei ist Nachhaltigkeit ja politisch gewollt.  

Die Regelbedarfe werden aber grundsätzlich empirisch ermittelt. Die Frage, wie viel Geld man wirklich braucht, um sich gesund und nachhaltig zu ernähren, wird nicht gestellt.

Mit empirisch meinen Sie, es wird geschaut, was Menschen einer gewissen Einkommensklasse faktisch für Lebensmittel ausgeben?  

SM: Genau. Diese Daten werden alle 5 Jahren im Rahmen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe erfasst. Maßgeblich hier sind die Konsumausgaben der unteren 15 Prozent der Einpersonenhaushalte (eine erwachsene Person) und der unteren 20 Prozent der Familienhaushalte (ein Paar mit einem minderjährigen Kind). Anhand dessen werden die Regelbedarfe berechnet. Es wird aber nicht berücksichtigt, ob dieses Geld wirklich genug ist, welche Lebensmittel genau erworben werden (können) oder ob diese Menschen beispielsweise zusätzlich Lebensmittel von Tafeln oder Foodsharing beziehen.  

Recht auf Nahrung - auch in Deutschland keine Selbstverständlichkeit

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist das Recht auf angemessene Nahrung für alle Menschen auf der Welt verankert. Wie steht es in Deutschland um dieses Recht?

SM: Es gibt ein Rechtsgutachten der Rechtsanwälte Günther in Hamburg, die Ende 2023 genau dieser Frage nachgegangen ist – das sagen also nicht nur wir von der Verbraucherzentrale: 

Das Recht auf Nahrung wird in Deutschland nicht ausreichend umgesetzt und geschützt.

Silvia Monetti, Verbraucherzentrale NRW

In Deutschland haben wir bisher sehr wenig Daten zu Ernährungsarmut, es gibt aber Schätzungen. Laut der FAO sind hierzulande 3,2 Millionen Menschen allein von materieller Ernährungsarmut betroffen. Diese Menschen haben also nicht die finanziellen Möglichkeiten, ausreichende, angemessene Lebensmittel zu erwerben. Trotzdem wird Ernährungsarmut von den politischen Entscheidungsträger:innen immer noch viel zu wenig beachtet – stattdessen wird die individuelle Verantwortung der einzelnen Verbraucher:innen vorgeschoben und strukturelle Bedingungen aus dem Fokus gelassen. 

Was ist Ernährungsarmut?

Von Armut bedrohte oder betroffene Menschen sind häufig von materieller und immaterieller Ernährungsarmut betroffen. Dieser Mangel umfasst drei Dimensionen:  

  1. Quantitativer Mangel: Durch ein zu niedriges Einkommen können nicht ausreichend Lebensmittel beschafft werden.  
  2. Qualitative Mangel: Fehlende Kenntnisse über die richtige Auswahl, Lagerung und Zubereitung gesunder Lebensmittel führt zu unausgewogener Nährstoffzufuhr (z. B. fehlende Vitamine & Kohlenhydrate, zu viel Fett).  
  3. Sozialer Mangel: Niedrige finanzielle Möglichkeiten schränken die soziale Teilhabe (Geburtstagsfeiern, Restaurantbesuche, ...) ein und führen zu psychischen Belastungen.  

Mit materieller Ernährungsarmut wird nicht nur der Mangel an Lebensmittel an sich beschrieben, sondern auch der finanzielle Aspekt eines solchen Mangels. Das heißt: Ist genügend Geld vorhanden, um Essen zu kaufen? Dabei geht es nicht nur um die Energiezufuhr, sondern auch um die Qualität der Lebensmittel. 

Sicher wissen wir, wie viele Menschen von finanzieller Armut bedroht oder betroffen sind. Das waren 2023 17,7 Millionen Menschen, also rund jede fünfte in Deutschland lebende Person. Man kann davon ausgehen, dass ein großer Teil davon zumindest teilweise, zum Beispiel am Ende des Monats, auch von Ernährungsarmut betroffen ist. Genaue Daten haben wir aber noch nicht. Und das ist natürlich auch kritisch zu betrachten, denn ohne Daten kein Problem – und wo kein Problem ist, muss man auch nicht handeln.

Ein Fakt aus ihrer Analyse: 4 Unternehmen kontrollieren 85 Prozent des Umsatzes im Lebensmitteleinzelhandel. Welche Folgen hat so eine enorme nach Marktmacht?

SM: Es ist bekannt, dass der Lebensmittelmarkt in Deutschland faktisch einem Oligopol – oder in diesem Fall eigentlich einem Oligopson – gleicht.  Selbst das Bundeskartellamt erkennt an, dass der Lebensmittelmarkt in Deutschland problematisch ist. 

Oligopol – was ist das?

Treffen in der Wirtschaft viele Anbieter und wenige Nachfrager aufeinander, handelt es sich um die Marktform des Oligopols. Dieses „Nachfrageoligopol“ ist auch als Oligopson bekannt. Ein Beispiel für ein Nachfrageoligopol sind in Deutschland verhältnismäßig viele Milchbauern, denen wenige Molkereien als Ankäufer gegenüberstehen.

Die vier Großen sind die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland, REWE mit dem Discounter Penny, Edeka mit Netto und Aldi Süd und Aldi Nord. So eine Marktmacht hat natürlich Konsequenzen. Sie können zum Beispiel ihre Konditionen diktieren, vor allem den mittelständischen und kleineren Unternehmen.

Wir fordern mit unserer Kampagne die Neugestaltung der Ernährungssysteme. Wie stehen Sie dazu? 

Zur Kampagne "Gesicht zeigen"

SM: Wir brauchen dringend zukunftsfähige Ernährungssysteme. Es ist eigentlich seit Jahrzehnten klar, dass es kein „Weiter so“ geben kann. Warum wird aber nicht genug gemacht? Warum sind manche private Akteur:innen so mächtig, dass sie sogar Governance-Prozesse bei den UN-Food-Summits so stark beeinflussen können?  

Letztendlich geht es um (private) Interesse und Machtverhältnisse. Was ist Gemeinwohl und was sind die Interessen weniger Akteur:innen? Nachhaltige Ernährungssysteme bringen große Veränderungen mit sich, beispielsweise hinsichtlich der Produktionsbedingungen. Diese Veränderungen sind nicht umsonst zu haben. Entscheidend ist hier, wie diese Kosten in der Gesellschaft verteilt werden. In den letzten Jahren sind Verbraucher:innen wortwörtlich massiv zur Kasse gebeten worden. Doch die ganze Verantwortung und Last der Veränderung auf Verbraucher:innen abzuwälzen, wird es nicht richten.  

Was muss passieren, damit sich in Zukunft jeder Mensch angemessenes Essen leisten kann?

SM: Machtverhältnisse entlang der Wertschöpfungsketten vom Feld bis auf den Teller müssen adressiert werden, auch um mehr Transparenz bei der Preisbildung zu erzielen.  

Einkommen müssen geschützt und gestärkt werden, damit sich alle Menschen gute Lebensmittel leisten können.

Und die gesunde, nachhaltige Wahl muss die einfachste Wahl werden, Stichwort: Ernährungsumgebungen. Ihre weitreichenden Einflüsse sind Verbraucher:innen und auch politischen Entscheidungsträger:innen häufig nicht bewusst. Aber wenn ich den ganzen Tag Werbung für Coca-Cola, Tiefkühlpizza und Fertiggerichte sehe, dann werde ich am Ende des Tages wahrscheinlich denken, ich brauche das. Das lernt man einfach so nebenbei. Doch was wir brauchen sind Rahmenbedingungen, die uns bessere Möglichkeiten bieten – die auf unsere Bedürfnisse abgestimmt sind und nicht auf die Verkaufsinteressen bestimmter Unternehmen. Bei der Gestaltung solcher Rahmenbedingungen hinkt Deutschland im internationalen Vergleich hinterher.

Ganz herzlichen Dank für das Gespräch! 

 

*In diesem Interview haben wir auf den Wunsch unserer Interviewpartnerin mit Doppelpunkt gegendert.

4. SEPTEMBER 2024
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