Wie sinnvoll sind Sachspenden wirklich? In akuter Not können Güter wie wärmende Decken oder Kinderwägen einen riesengroßen Unterschied machen. Das konnten wir in den ersten Tagen nach Beginn des Konflikts in der Ukraine sehen. Doch diese Form der Hilfe kommt schnell an ihre Grenzen, erklärt Judith Escribano, stellvertretende Leiterin Kommunikation bei Aktion gegen den Hunger in Großbritannien.
Richtig spenden: „Sachspenden helfen nur begrenzt”
„Die Unterstützung für die Menschen in der Ukraine ist beispiellos und beeindruckend”, sagt Judith Escribano. Woran das liegt: Der Konflikt passiert mitten in Europa und fühlt sich dank der sozialen Medien gleich noch näher an.
Ich verstehe den Wunsch, helfen zu wollen und freue mich sehr darüber”, erklärt sie.
„Aber ich muss auch eines klarstellen: Unmengen an Gütern zu sammeln und endlose LKW-Ladungen mit Kleidern, Decken, Essen und Windeln loszuschicken hilft nur begrenzt weiter.”
Geflüchtete brauchen dringend Hilfe. Was ihnen am meisten nutzt, ist gezielte Unterstützung von Hilfsorganisationen.
60 Prozent der Sachspenden werden nicht gebraucht
Die Realität sieht leider so aus: Tütenweise Sachspenden erwärmen das Herz, das stimmt. Aber sie schaden oft mehr als zu helfen. Etwa dann, wenn die Versorgungskette nicht zu Ende gedacht wird. Es gab etwa schon Berichte darüber, dass Berge von Hilfsgütern einfach an der Grenze abgeladen worden sind. Und dann? Wer sortiert sie? Wer verteilt sie?
„Ich möchte ehrlich sein: In einer humanitären Katastrophe lässt sich Hilfe am besten und sinnvollsten mit Bargeld umsetzen. Wir brauchen Geld, kein 'Zeug'”, so Escribano.
Judith Escribano arbeitet seit 25 Jahren im Bereich der humanitären Hilfe und hat die Krisen im Jemen, in Syrien und Afghanistan miterlebt. „Daher weiß ich aus erster Hand, dass Berge von Sachspenden – von denen die meisten gar nicht genutzt werden können – eine zusätzliche Katastrophe hervorrufen können: Rund 60 Prozent der Sachspenden enden als Abfall.”
Sachspenden nehmen viel Platz weg. Daher ist es wichtig, dass die Mitarbeiter*innen vor Ort selbst bestimmen können, was sie kaufen. Sie wissen am Besten, was benötigt wird.
Polen hat seit Beginn des Konflikts bereits über zwei Millionen Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. „Die schiere Menge an Gegenständen und Essen, die dort ankommen, ist überwältigend”, weiß Escribano. So überwältigend, dass die dort arbeitenden Hilfsorganisationen wie Aktion gegen den Hunger, bereits dazu aufrufen, das Sammeln und Senden von Sachspenden zu stoppen.
Und doch kommen weiter LKWs und Transporter an.
„Unnötige Gütereinfuhr schadet der schon geschwächten Wirtschaft”
Aber: Es ist viel effizienter, wenn alles lokal gesammelt und von erfahrenen Mitarbeiter*innen verteilt wird. Denn sie wissen genau, was wann gebraucht wird, erklärt Judith Escribano: „Was viele Menschen nicht wissen: Die Bedarfe ändern sich blitzschnell. Was wir heute spenden, könnte morgen schon nicht mehr gebraucht werden.”
Was nämlich im ersten Moment des Helfen-Wollens selten beachtet wird: „Es ist weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll, jede Menge Produkte in Ländern wie Großbritannien oder Deutschland zu kaufen und sie dann hunderte Kilometer weit über teilweise zollbehaftete Grenzen in die Nachbarländer der Ukraine zu transportieren. Länder, in denen Güter wie Decken, Windeln, Zahnbürsten oder Nahrungsmittel ebenfalls erhältlich sind – oft sogar günstiger.”
Stattdessen könne man mit Geld auch lokale Geschäfte unterstützen. „Mit unnötiger Gütereinfuhr hingegen schaden wir der oft geschwächten Wirtschaft vor Ort.”
Bargeld gibt verlorene Unabhängigkeit zurück
Familien, die in Eile fliehen mussten – ukrainische Mütter mit Kindern und nur wenig Gepäck – benötigen Geld, um essentielle Dinge zu kaufen, die sie wirklich benötigen. Hilfsorganisationen helfen dabei, das Geld an jene zu verteilen, die es benötigen.
„Und das ist ein wichtiger Punkt: Bargeld direkt an Geflüchtete zu verteilen, zeigt diesen Menschen, dass man ihnen vertraut, damit genau das zu kaufen, was sie für sich und ihre Familien wirklich benötigen”, hebt Judith Escribano hervor. “Geld gibt ihnen ein wenig Stärke, Freiheit und Unabhängigkeit zurück, die der Krieg und die Flucht ihnen genommen haben.” Selbstbestimmung ist in einer Fluchtsituation ein wichtiger Anker für die mentale Gesundheit.
Und auch Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen können ihre Kräfte viel besser bündeln und die Menschen sinnvoller unterstützen, wenn sie ihre Zeit etwa für psychosoziale Hilfe nutzen, anstatt aus dem Ausland geschickte Waren zu sammeln und zu sortieren. „Das Geld, das in die Miete von Warenlagern voller Schlafsäcke, alter Kleidung und Konserven fließt, ist besser genutzt, wenn es direkt bei den flüchtenden Menschen ankommt.”
Frische Lebensmittel sind Grundvoraussetzung für eine ausgewogene Ernährung und können nicht gespendet werden.
Hilfsorganisationen können gezielt helfen
Darüber hinaus seien viele der unkoordiniert gespendeten Waren schlicht nicht angemessen für Menschen, die ihr Zuhause verlassen mussten, weiß sie: „Milchformeln zum Beispiel, also Muttermilchersatzprodukte, werden oft gespendet. Doch sie benötigen zum Anrühren zwingend sterilisierte Fläschchen und abgekochtes Wasser – beides lässt sich in Kriegsgebieten kaum auftreiben.” Zudem seien die Anleitungen auf den Verpackungen aus dem Ausland oft in der falschen Sprache. „Aber was nutzt einer ukrainischen Mutter eine deutsche Zubereitungsanleitung? In Krisenzonen erleben wir als Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen viel zu oft, wie Babies falsch zubereiteter Milchersatz gegeben wird – mit fatalen Folgen für die Gesundheit der Kleinsten.”
Hilfsorganisationen wie Aktion gegen den Hunger sind zurzeit an den Grenzen und in der Ukraine vor Ort und arbeiten an organisierter und sinnvoller Unterstützung. „Wir haben die Erfahrung, während Konflikten Hilfe zu leisten. Wir bewerten die Lage – und helfen dann gezielt. Zurzeit etwa verteilen wir rund 2.000 heiße Mahlzeiten am Tag an Geflüchtete an der moldawischen Grenze. Dafür nutzen wir lokale Lebensmittel, gekauft mit gespendetem Geld.”
Geld mag unpersönlich sein – aber es hilft effektiver
Judith Escribano hat aus all diesen Gründen eine eindringliche Bitte: „Wenn Sie wirklich effektiv helfen wollen, spenden Sie Geld an Aktion gegen den Hunger oder eine der anderen registrierten Hilfsorganisationen, die unermüdlich die flüchtenden Menschen aus der Ukraine unterstützen.”
Die Intention hinter Sachspenden mag positiv sein. „Ich weiß, dass jede*r von Ihnen Hilfe leisten will, die von Herzen kommt – und es mag sich persönlicher anfühlen, Kleidung oder Essen zu spenden anstelle von Geld. Aber oft machen Sachspenden eine bereits schreckliche Situation noch viel komplizierter.”