Vor zwei Jahren begann Russland mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine und hat damit die Welt, wie wir sie kennen, verändert. Die Auswirkungen dieses Krieges sind weltweit zu spüren. Vor allem betreffen sie aber die ukrainische Bevölkerung. Viele Millionen Menschen sind seit dem 24. Februar 2022 geflohen – manche sind bereits zurückgekehrt, um wieder bei ihrer Familie zu sein. Sie alle mussten sich auf ein neues Leben einstellen, das verschiedenste Herausforderungen mit sich bringt. Unsere Teams in der Ukraine sind für sie da.
Leben in der Ukraine: Wie wir Menschen im ganzen Land helfen
Philip Oldham ist der stellvertretende Länderdirektor bei Aktion gegen den Hunger in der Ukraine. Derzeit arbeitet er in Kiew, davor war er bereits in Mykolajiw im Süden der Ukraine tätig. Er ist dort vor allem zuständig für die Mitarbeitenden in den Bereichen Hygiene und Wasserversorgung (WASH), psychosoziale Betreuung und mentale Gesundheit (MHPSS), Ernährung und Ernährungssicherheit sowie Lebensunterhalte. Im Interview stand er uns Rede und Antwort bezüglich der Situation, in der sich die Menschen im Land seit nunmehr zwei Jahren befinden. Er geht darauf ein, wie unsere Teams helfen und welche Herausforderungen noch bevorstehen.
Aktion gegen den Hunger: Herr Oldham, wie unterscheidet sich die Situation in der Ukraine heute von der Situation vor der Eskalation des Krieges im Februar 2022, insbesondere im humanitären Bereich?
Philip Oldham: [Unsere Arbeit als humanitäre Hilfsorganisation verläuft] jetzt viel weniger chaotisch. Der Zustrom von Hilfsgütern in das Land reicht aus, um die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Es sind fast 15 Millionen Menschen noch immer auf humanitäre Hilfe angeweisen. Hunderttausende leben in der Nähe der Front, viele dort haben keine Heizung, Wasser oder Strom. Die meisten Binnenvertriebenen leben jedoch in der Mitte und im Westen des Landes in Sammelunterkünften oder bei Verwandten und Freunden. Oder sie haben sich eine Wohnung gemietet, die von Familien bereitgestellt wird, die das Land verlassen haben. Es ist nach wie vor eine Herausforderung, den Menschen an vorderster Front Hilfe zukommen zu lassen. Aber dies geschieht durch internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs), lokale Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die UN und verschiedene private Initiativen. Aufgrund der Lage der Ukraine in Europa gelangen, wie schon bei den Balkankriegen, große private Hilfslieferungen in das Land. Eine Person erzählte mir, dass "jede Kirchengemeinde in Deutschland jeden Monat einen Lastwagen in die Ukraine schickt“.
Mit Blick auf das Jahr 2024 bleibt die derzeitige humanitäre Lage besorgniserregend und könnte sich weiter verschlechtern, wenn die russischen Angriffe auf die Energieversorgung und andere kritische Infrastrukturen im Winter zunehmen. Dieser Trend war bereits im Jahr 2022 zu beobachten, und die Angriffe begannen auch in diesem Jahr im Dezember. Es wird erwartet, dass die Mittel zurückgehen werden, insbesondere weil andere Krisen in der Welt den Schwerpunkt der globalen Hilfsbemühungen verlagern.
Mehr als sechs Millionen Flüchtlinge sind aus der Ukraine geflohen und vier Millionen sind Binnenvertriebene. [Anm. d. Red.: Das heißt, sie mussten aus ihrer Heimat in einen anderen Teil des Landes flüchten.] Bis September 2023 sind fast 4,6 Millionen Menschen in der Ukraine in ihre Häuser zurückgekehrt, nachdem sie aufgrund der groß angelegten Invasion vertrieben worden waren. Rund 111.500 Binnenvertriebene sind derzeit in 2.595 Sammelunterkünften untergebracht.
Bedarfe der Menschen in der Ukraine und den umliegenden Ländern:
- In der Ukraine sind bis heute 7,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe in den Bereichen Ernährung und Lebensunterhalt angewiesen. Die höchste Ernährungsunsicherheit verzeichnen wir in den Oblasten Donetsk und Kherson.
- 7,8 Millionen Menschen benötigen medizinische Unterstützung - das Gesundheitssystem in der Ukraine ist durch den Krieg stark geschwächt, über 1.300 Krankenhäuser und Praxen sind durch Angriffe beschädigt oder zerstört.
- Jeder ukrainische Mensch ist auf psychologische Unterstützung angewiesen. Wir gehen davon aus, dass mindestens 22 Prozent der Bevölkerung langfristige psychische Schäden wie Depression und Angststörungen davontragen – insbesondere Kinder und ältere Menschen.
- 9,6 Millionen Menschen haben keinen ausreichenden Zugang zu sauberem Wasser und intakten Toilettenanlagen – entweder durch Zerstörung der Infrastruktur oder weil sie in Notunterkünften wie Turnhallen leben, die nie als solche vorgesehen waren.
Was sind die wichtigsten Herausforderungen und Bedürfnisse, mit denen die Menschen in der Ukraine zwei Jahre nach der Eskalation des Krieges konfrontiert sind? Welches sind die Hauptpfeiler unserer Hilfe in der Ukraine?
Es gibt meiner Meinung nach zwei Arten von Bedürfnissen: Einerseits gibt es die grundlegenden Bedürfnisse. Es gibt immer noch viele Menschen, die Unterstützung in Form von Lebensmitteln, Wasser, Hygiene und ähnlichem benötigen. Viele von ihnen leben in den Frontgebieten bzw. in Dörfern, die keine Heizung, kein Wasser, keinen Strom haben. Diese Menschen gehen in die Hunderttausende.
Aber zahlenmäßig ist das eine kleinere Gruppe als die Millionen von Vertriebenen im Land. Viele leben bis heute in Sammelunterkünften oder sind bei Verwandten, Freunden oder in Mietwohnungen im Westen untergekommen. Auch diese Menschen benötigen Unterstützung, etwa Bargeldhilfen, weil sie ihrer Arbeit nicht oder nur in geringem Umfang nachgehen können. Diese Familien benötigen keine Hygienesets oder Mahlzeiten – dafür aber Hilfe bei der Wiedereingliederung. Etwa eine neue Ausbildung, die ihren Lebensunterhalt sichert. Viele von ihnen kommen aus ländlichen Gebieten und leben nun in den Städten. Das, was sie einst gelernt haben, wird in ihrer neuen Umgebung nicht immer benötigt.
Außerdem brauchen vor allem Frauen eine Kinderbetreuung, weil viele der Schulen geschlossen sind. Sie müssen also ihre Kinder zuhause betreuen. Für die Arbeit oder eine Ausbildung fehlt ihnen daher die Zeit.
Es gibt also eine ganze Reihe von Bedürfnissen, die uns im Kriegskontext nicht sofort in den Sinn kommen. Die Hilfe aus anderen Ländern konzentriert sich allerdings vorrangig auf die Grundbedürfnisse und die humanitäre Hilfe an der Front. Die ist auch wichtig, aber wir hoffen, dass mehr Geber ihre Aufmerksamkeit auf die Millionen von Vertriebenen im Westen richten. Aktuell sind wir nicht in der Lage, alle diese Menschen zu erreichen. Daher konzentrieren wir uns vor allem auf die dringenden Bedürfnisse der Menschen in den Frontgebieten. Mentale Hilfe und psychosoziale Unterstützung werden im gesamten Land benötigt, daher ist das einer unserer wichtigsten Bereiche. Jeder Mensch in der Ukraine ist durch den Krieg traumatisiert worden. Einige haben ihr Zuhause, einen geliebten Menschen oder ihren Arbeitsplatz verloren. Andere leben immer noch in ihren Häusern, gehen zu ihren Arbeitsplätzen, doch jeder Angriffsalarm setzt ihnen zu. Wir erkennen also an, dass viele Menschen psychosoziale Unterstützung brauchen.
Unsere Hilfe im Bereich WASH wiederum konzentriert sich hauptsächlich auf die Orte nahe der Front. Wir unterstützen beim Verteilen von Hygieneartikeln oder bauen Bohrlöcher in Dörfern, die aufgrund des Konflikts keinen Zugang mehr zu frischem Wasser haben.
Unser Gesundheitsprogramm wiederum konzentriert sich auf die Unterstützung ländlicher Kliniken mit Medikamenten, Hilfsmitteln und Schulungen von Gesundheitspersonal. Wir haben auch eine mobile medizinische Einheit, die in abgelegene Dörfer fährt. Dort wohnen vor allem ältere und gebrechliche Menschen, die sich fürs Bleiben entschieden haben. Mit den mobilen Kliniken können wir sie vor Ort medizinisch versorgen.
Bei der Ernährungssicherheit und der Sicherung des Lebensunterhalts geht es vor allem darum, elektronisch Bargeld an Menschen zu verteilen, die vom Beschuss betroffen sind, in der Nähe der Frontlinien leben oder kürzlich vertrieben wurden. Sie erhalten gerade genug, um ihre Grundbedürfnisse zu decken. Ihren Lebensunterhalt können sie davon langfristig nicht sichern. Dafür reicht unsere derzeitige Finanzierung nicht. Warum also Bargeld? Der Markt funktioniert in den meisten Teilen des Landes noch immer, daher ist Geld eine geeignetere Form der Unterstützung als die Verteilung von Nahrungsmitteln und anderen Gütern.
Programme für warme Mahlzeiten bieten wir vor allem in den ländlichen Gebieten an, wo Menschen in Dörfern ohne Wasser, Strom und Heizung leben.
Warme Mahlzeiten zum Verteilen werden vor allem noch für die Menschen im Osten der Ukraine zubereitet. In einer Geflüchtetenunterkunft in der Nähe des ebenfalls stark umkämpften Saporischschja schneiden freiwillige Helfer*innen Kartoffeln für Menschen, die aus Cherson, Donetsk und anderen Regionen an der Front kommen und Unterstützung brauchen.
Gibt es spezielle Programme oder Maßnahmen, die auf die besonderen Bedürfnisse besonders gefährdeter Gruppen (Kinder, Frauen, ältere Menschen) eingehen?
Ja! Bei den in Sammelunterkünften und teilweise zerstörten Dörfern verbliebenen Menschen handelt es sich in der Regel um gefährdete und ältere Menschen, die nirgendwo anders hingehen können und auch nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, um dies zu tun. Die Sicherstellung einer regelmäßigen Versorgung mit Lebensmitteln, medizinischer Betreuung (sowohl gesundheitlich als auch psychisch) und Hygieneartikeln ist daher eine Priorität für Aktion gegen den Hunger.
Schulen sind in Betrieb, wenn sie einen Luftschutzkeller haben. Die meisten schulischen Einrichtungen besitzen aber keinen, so dass viele Kinder bis heute zu Hause Onlineunterricht haben. Das bedeutet, dass mindestens ein erwachsenes Familienmitglied nicht arbeiten kann, da ihre kleinen Kinder den ganzen Tag zu Hause sind. Wir suchen bei Aktion gegen den Hunger derzeit nach Möglichkeiten, in den kommenden Monaten Gutscheine für Kinderbetreuung zur Verfügung zu stellen.
Die Mehrheit der Menschen in der Ukraine leidet unter psychischen Problemen als Folge von Krieg und Trauma. Können Sie uns über Ihre Erfahrungen und die Arbeit von Aktion gegen den Hunger in diesem Bereich berichten?
Ja, MHPSS (Mental Health and PsychoSocial Support) ist einer unserer vorrangigen Programmbereiche. Alle Menschen in der Ukraine benötigen eine Form der Unterstützung in diesem Bereich. Wir bieten direkte Hilfe durch unsere Psycholog*innen- und Sozialarbeiterteams und haben mehrere Partner*innen, die wir unterstützen und die ebenfalls MHPSS-Dienste anbieten. Ich habe an einer Sitzung mit Binnenvertriebenen in einem Kollektivzentrum teilgenommen. Dort wird sehr deutlich, wie sehr diese Sitzungen geschätzt werden.
Das Leben im Krieg setzt vor allem den Kindern stark zu. Nicht nur die Angriffe und die konstante Bedrohungslage in den umkämpften Gebieten, sondern die plötzlich neuen Lebensumstände – ob auf der Flucht, in ständiger Angst vor neuen Bomben oder einfach, weil der Tagesablauf aufgrund geschlossener Schulen und fehlender Freunde und Familienmitglieder jetzt ein anderer ist. Unsere psychosoziale Hilfe richtet sich auch an Kinder – etwa mit Musiktherapie.
Was sind die größten Herausforderungen für die Teams, die vor Ort arbeiten?
Die Sicherheit hat natürlich oberste Priorität, aber sie beeinträchtigt [mittlerweile] nur selten die Durchführung unserer Programme. Es gibt einige Orte in unmittelbarer Nähe der Front, wo es zu gefährlich ist, sich dorthin zu begeben. Aber auch hier gilt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung in Gebieten lebt, die wir erreichen können.
Die Ukraine hat sich seit der Unabhängigkeit stark verändert, aber das Erbe der sowjetischen Bürokratie ist noch nicht ganz verschwunden. Dies wirkt sich auf unser Gesundheitsprogramm aus, denn wir dürfen nur bestimmte Leistungen erbringen, und die Einfuhr von Medikamenten ist kompliziert und zeitaufwändig.
Die Rekrutierung ist ebenfalls ein Engpass und dauert in der Regel sehr lange, da es hier nur sehr wenige humanitäre Hilfsorganisationen gibt.
Außerdem konzentrieren sich die internationalen Geber nach wie vor auf die Grundbedürfnisse und die vordersten Frontbereiche. Das bedeutet, dass wir (noch) keine Hilfe für Binnenvertriebene im Westen leisten können, die Unterstützung bei der Kinderbetreuung, Berufsausbildung, Schulungen zur Unternehmensgründung und Zuschüsse für ein eigenes Unternehmen benötigen. Es handelt sich um Menschen, die von humanitärer Hilfe abhängig sind, dies aber nicht brauchen oder wollen. Diese Menschen sind bereit, ihren Lebensunterhalt wieder mit eigener Arbeit zu verdienen – ob in ihrem alten Handwerk oder mit etwas Neuem. Dafür steht derzeit nur sehr wenig Geld zur Verfügung.
Noch eine allgemeine Frage zur Funktionsweise der Notfallhilfe: Was sind die ersten drei Schritte eines Notfallteams, wenn es in einem Krisengebiet angekommen ist?
Um ehrlich zu sein, gibt es hier kein wirkliches Szenario. Als der Kachowka-Damm zerstört wurde, haben wir sofort gehandelt, um die Lage zu beurteilen, und haben schnell damit begonnen, Trinkwasser in Flaschen und warme Mahlzeiten bereitzustellen.
Aber in letzter Zeit gab es keine großen Menschenbewegungen, und bei Granatenangriffen sind in der Regel nur 10-20 Personen betroffen, [die dann schnell Hilfe erhalten]. Wir haben kein spezielles Notfallteam, können aber auf die vorhandenen Mitarbeitenden zurückgreifen, um schnell auf neue oder dringende Bedürfnisse zu reagieren. Wir haben gute Beziehungen zu den lokalen Behörden und den UN-Koordinationsgruppen, so dass wir schnell über neue Bedürfnisse informiert werden und mit anderen Organisationen abstimmen können, wer was übernimmt.
Unsere Hilfe in der Ukraine, in Moldau, Rumänien und Polen
- Insgesamt konnten die Teams von Aktion gegen den Hunger seit Beginn des Angriffs in der Ukraine über 1,5 Millionen sowie in Moldau, Rumänien und Polen im ersten Jahr über 150.000 Menschen unterstützen.
- Im Osten der Ukraine fokussieren sich unsere Teams auf die Unterstützung der direkt vom Krieg betroffenen Menschen: Wir verteilen Lebensmittel und frisch zubereitete warme Mahlzeiten sowie weitere lebenswichtige Güter, unterstützen mit Trinkwasser und Hygienekits und arbeiten am Wiederaufbau zerstörter Wasserleitungen. Wir leisten psychosozialen Support und medizinische Hilfe. Außerdem unterstützen wir die Menschen mit Bargeldhilfen, damit sie sich wann immer möglich selbst versorgen können.
- Im Westen des Landes konzentrieren sich unsere Teams auf psychosozialen Support, Lebensmittelverteilung sowie Bargeldhilfen insbesondere an Binnenvertriebene, damit sie sich wieder eine Existenz aufbauen können.
- In den umliegenden Ländern Moldau und Rumänien (in Polen bis Anfang 2024) unterstützen wir zusammen mit lokalen Partnern Geflüchtete mit lebenswichtigen Gütern wie Wasser und Nahrung, leisten psychosozialen Support insbesondere für Kinder und helfen Familien mit Bargeldhilfen dabei, ihre Bedarfe selbstständig zu decken.
Können Sie ein persönliches Erlebnis oder eine Geschichte erzählen, die Sie während Ihrer Arbeit in der Ukraine seit der Eskalation des Konflikts tief beeindruckt hat?
Wissen Sie, ich war in einigen dieser Gebiete, die früher von der russischen Armee besetzt waren, und habe Dörfer gesehen, in denen sie einfach mit einem Panzer die Hauptstraße des Dorfes entlanggefahren sind und eine Granate in jedes einzelne Haus geworfen haben. Jedes einzelne Haus im Dorf wurde zerstört, und ich frage mich, ob diese Dörfer jemals wieder aufgebaut werden können. Oder ist das das Ende einiger dieser Orte, für die so viel Geld benötigt wird? Wer weiß, wann der Prozess des Wiederaufbaus überhaupt wieder aufgenommen werden kann und wie lange der Krieg noch andauern.
Ich kann mir vorstellen, wie die Menschen in diesen Häusern, in diesen Dörfern ein normales Leben geführt haben, dass sie ihr Leben genossen haben und produktiv waren, und das ist jetzt alles weg. Ich kann mir vorstellen, welche persönlichen Auswirkungen das auf eine Familie und eine Gemeinschaft hat.
Eine andere Geschichte: Ich war in Mykolaijw, und eines Nachts gab es einen Beschuss. Ich ging später an dem Gebäude vorbei, das zerstört worden war. Es rauchte immer noch. Die Feuerwehr war noch da. Das war vielleicht zwei Kilometer von meinem Hotel entfernt. Es gibt also auch solche Ereignisse, die man direkt sehen und hören kann, wenn sie passieren. Und ich war in den Notunterkünften – in Sporthallen oder Schulen, die nie dafür vorgesehen waren, dass Menschen dort leben. Dort leben Menschen auf Feldbetten, mit einem Meter Abstand zur nächsten Person, die sie in den meisten Fällen gar nicht kennen. Jetzt leben sie dort seit fast 24 Monaten, ohne Zugang zu einer richtigen Küche oder einem Bad mit Dusche.
Auch hier handelt es sich meist um ältere oder behinderte Menschen, die nicht das Geld oder die Verbindungen haben, um eine Wohnung in einem anderen Teil des Landes zu mieten.
Es ist also sehr deprimierend und traurig, diese Zustände zu sehen und die Auswirkungen des Krieges auf die Menschen zu beobachten. Das sind einige der Perspektiven und Erfahrungen, die ich in diesem Krieg gemacht habe.
Leben in der Zerstörung: Auch im Krieg muss es weitergehen, wie dieser Junge beweist, der mit seinem Fahrrad vorbei an ausgebombten und verlassenen Gebäuden durch einen Ort in der Nähe der ukrainischen Stadt Saporischschja fährt. In unmittelbarer Nähe kommt es immer wieder zu Angriffen.
Wie kommen Sie mit den ständigen Alarmen zurecht? Nicht alle von ihnen führen dazu, dass Raketen tatsächlich einschlagen. Versuchen Sie also, sich so weit wie möglich daran zu gewöhnen, und wie leben Sie mit der ständigen Bedrohung?
Ja, man muss auf jeden Fall einen Weg finden, sich daran zu gewöhnen! Hier in Kiew haben wir 20-30 Alarme pro Woche, aber normalerweise nur 2-5 „Einschläge“ in dieser Zeit. (Ich mache mir mehr Sorgen, dass ich im Winter auf Schnee und Eis ausrutsche!) Alle unsere Büros und Wohnungen haben unterirdische Sicherheitsbunker (Keller, Parkgarage usw.), so dass wir bei Bedarf in Deckung gehen können, aber das kommt im Moment selten vor. Wir haben ein ausgezeichnetes Sicherheitsteam, das uns über verschiedene Messenger-Kanäle innerhalb von 60 Sekunden nach dem Alarm eine Nachricht mit einer Bewertung der Bedrohung schickt und uns mitteilt, ob wir Maßnahmen ergreifen müssen, wie Schutz im Untergrund suchen, in ein Gebäude gehen sollen, wenn wir auf der Straße sind, usw..
Was kann die internationale Gemeinschaft und was können Einzelpersonen jetzt tun, um den Menschen in der Ukraine zu helfen?
Ich komme auf das zurück, was ich vorhin über Selbstständigkeit gesagt habe: Es gibt eine Menge humanitärer Hilfe, die nicht über traditionelle Kanäle wie humanitäre Hilfsorganisationen kommt. Etwa die eben genannten Kirchengemeinden, die regelmäßig Hilfsgüter schicken. Die Leute mieten einfach einen Lastwagen und packen Kleidung, Lebensmittel und Medikamente hinein. Dann fahren sie in eine Stadt in der Ukraine oder an den Grenzen. In den Städten gibt es selbst organisierte humanitäre Zentren, damit die Menschen wissen, wo sie Lebensmittel, Kleidung und Medikamente bekommen können, wenn sie sie brauchen. Es gibt also nicht wirklich einen Mangel an humanitärer Hilfe.
Wir als Aktion gegen den Hunger haben zu Beginn der Eskalation ein Ernährungsprogramm gestartet, aber mittlerweile festgestellt, dass es dafür kaum noch Bedarf gibt. Es gibt hier kaum Mangelernährung – die Menschen haben in der Regel genügend zu essen. Und auch Decken und Brennstoff lassen sich dort auftreiben, wo es im Winter kalt wird. Was wir also wirklich tun müssen, ist, den Menschen zu helfen, ihr Leben und ihren Lebensunterhalt wieder in den Griff zu bekommen. Und die Menschen wollen das tun, sie wollen nicht auf humanitäre Hilfe angewiesen sein.
In den Ländern, in denen wir arbeiten, ist das nicht immer der Fall, aber die Menschen hier könnten schnell wieder auf eigenen Füßen stehen, wenn wir ihnen nur helfen würden, ihre Karriere und ihren Lebensunterhalt wieder aufzubauen.
Ich denke, das ist die Botschaft, die ich der internationalen Gemeinschaft und den Menschen in Deutschland, die der Ukraine helfen wollen, mit auf den Weg geben möchte: Es geht nicht darum, Hygieneartikel, Kleidung und Lebensmittel zu schicken, sondern darum, einen Weg zu finden, Geld zu schicken, das den Menschen helfen kann, eine Berufsausbildung zu bekommen oder eine Kinderbetreuung zu finden. Damit sie zur Arbeit gehen können und so weiter.
Das ist also der nächste Schritt, glaube ich.
Was gibt Ihnen in dieser schwierigen und oft gefährlichen Situation Hoffnung?
Mehrere Dinge. Erstens sind der Stolz, die Unverwüstlichkeit und die Hoffnung des ukrainischen Volkes inspirierend und erstaunlich. Ich sehe das sowohl bei meinen Kolleg*innen als auch bei Freunden und anderen Menschen, die ich vor Ort treffe.
Zweitens: Krieg ist schrecklich, aber er bringt auch Erneuerung, wenn er vorbei ist. Neue Häuser, Schulen, Krankenhäuser, Fabriken, Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum.
Und ich sehe die Auswirkungen der Arbeit von Aktion gegen den Hunger und den Unterschied, den unsere Projekte im Leben der leidenden Menschen bewirken.
Und schließlich sehe ich die unerschütterliche Solidarität Europas mit der Ukraine und das Engagement so vieler Länder, Regierungen, Organisationen und Einzelpersonen, die der Ukraine helfen wollen.
Es gibt hier so viel Leid, aber das bedeutet nicht, dass es nicht auch so viel Hoffnung gibt.