Nach ihrer gewaltsamen Vertreibung hat sich Naziks Familie ein neues Leben in Armenien aufgebaut. Wir erzählen ihre Geschichte.
Am 19. September 2023 startete Aserbaidschan eine Militäroffensive in Bergkarabach. In der Folge wurden mehr als 100.000 Menschen dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und in Armenien Zuflucht zu suchen. Zu dem Zeitpunkt befand sich die Bevölkerung der Enklave bereits durch die neun Monate dauernde Belagerung und den dadurch immer größer werdenden Hunger in einer humanitären Krise. Ein Jahr später ist die Integration der Vertriebenen nach wie vor ein täglicher Kampf, der von Schmerz und Unsicherheit geprägt ist.
Nazik, ihre Tochter Lilit (22) und ihre Schwägerin Gayane sind drei dieser Menschen. Sie stammen ursprünglich aus dem Dorf Mets Tagher in der Provinz Hadrut und führten ein ruhiges Leben, bis sie durch den Konflikt zur Flucht gezwungen wurden: Nazik arbeitete als Teppichweblehrerin, Lilit studierte Design und Gayane kümmerte sich während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester um ihre Schwiegermutter.
Zwangsvertreibung und Verlust
Wegen der Angriffe Aserbaidschans im vergangenen September sind Nazik und ihre Familie mit nichts als den Kleidern, die sie am Leib trugen, aus ihrem Zuhause geflohen. Innerhalb weniger Stunden mussten sie fliehen und alles zurücklassen. Drei Tage lang hat die Reise nach Armenien gedauert. Eine Zeit voller Ungewissheit und Erschöpfung, in der sie ständig Angst hatten, von aserbaidschanischen Soldat*innen abgefangen zu werden, die Eigentum beschlagnahmten und nach Männern suchten, die mit dem Militärdienst in Verbindung standen. Um nicht identifiziert werden zu können, haben Nazik, ihre Familie und viele andere Flüchtende ihre persönlichen Dokumente verbrannt.
Kurz bevor sich die Familie auf den Weg machen wollte, mussten sie einen schweren Schicksalsschlag erleben: Während Naziks Vater und ihr Neffe für Benzin anstanden, wurden sie durch eine Tankerexplosion getötet. Bis heute sind die Ursachen des Unfalls nicht bekannt, was den ohnehin schon überwältigenden Verlust für die Familien noch verschlimmert.
Ein Neuanfang voller Ungewissheit
Schließlich ist es Nazik und ihrer Familie gelungen, die armenische Provinz Ararat zu erreichen, wo sie mithilfe von Zuschüssen der armenischen Regierung ein Haus mieten konnten. Dort haben sie eine Weile zusammen mit weiteren geflüchteten Familienmitgliedern gelebt – insgesamt waren sie 16 Personen –, bis nach und nach viele von ihnen eine andere Unterkunft fanden.
Die ersten Monate in Armenien waren extrem schwierig. In der unbekannten Umgebung fühlte sich die Familie entwurzelt und verloren. Die Tatsache, dass ihr Heimatdorf nach ihrer Abreise zerstört worden war, verstärkte dieses Gefühl weiter. Nazik und Gayane haben immer noch Schwierigkeiten sich zurechtzufinden, zudem leisten Naziks Ehemann und Sohn Militärdienst. Weit weg von zu Hause lasten zusätzliche Sorgen auf ihren Schultern.
Leben nach dem Bergkarabach-Konflikt
Trotz der düsteren Aussichten haben Nazik, Lilit und Gayane in den Integrationsprogrammen von Aktion gegen den Hunger einen wichtigen Halt gefunden. Die Adaptation-and-Integration-Clubs sind ein Programm, das darauf abzielt, Schulungen zur beruflichen und persönlichen Weiterentwicklung anzubieten. Mit dessen Hilfe haben die drei Frauen begonnen, wieder Kontrolle über ihr Leben zu bekommen.
Die Adaptation-and-Integration-Clubs, die in verschiedenen Regionen Armeniens aktiv sind, bieten nicht nur praktische Hilfsmittel zur Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten, sondern auch einen Raum für emotionale Unterstützung, in dem Geflüchtete ihre Erfahrungen austauschen und Solidaritätsnetzwerke bilden können. Nazik, Lilit und Gayane haben enge Beziehungen zu anderen Vertriebenen aus Bergkarabach aufgebaut und teilen ihre Geschichten über Verluste und den Umgang damit in einer Art Kollektivtherapie.
Nazik beispielsweise hat ein von Aktion gegen den Hunger bereitgestelltes Stipendium genutzt, um ihren Imkereibetrieb wieder aufzunehmen, eine Tätigkeit, die sie bereits in Bergkarabach mit ihrem Ehemann ausgeübt hatte. Mit den erhaltenen Mitteln konnte sie die notwendige Ausrüstung kaufen und wieder mit der Honigproduktion beginnen. Nun hat sie eine Einkommensquelle und in gewisser Weise verbindet jetzt ein roter Faden ihr Leben vor der Flucht und nach der Ankunft in Armenien.
Auch Gayane hat in Armenien eine neue berufliche Chance erhalten. Dank der Ausbildung und Unterstützung des Clubs erhielt sie ein Praktikum in einem Schönheitssalon, wo sie Microblading-Techniken erlernt. Damit strebt sie nun eine neue Karriere an.
Im vergangenen Jahr war Aktion gegen den Hunger eine wichtige Stütze für Familien, die vom Bergkarabach-Konflikt betroffen waren. Die Organisation hat bedürftigen Menschen Unterkünfte, Lebensmittel und emotionale Unterstützung zur Verfügung gestellt. Sie hat etwa 6.000 Mehrzweck-Bargeldtransfers verteilt, die es Familien ermöglichen, ihre Grundbedürfnisse nach eigenem Ermessen zu decken, und 9.000 Supermarktgutscheine ausgestellt, um Vetriebenen den Zugang zu Lebensmitteln und lebensnotwendigen Gütern zu erleichtern.
Wie sieht die Zukunft für die Menschen aus Bergkarabach aus?
Trotz der Fortschritte herrscht weiterhin Unsicherheit. Für viele vertriebene Familien, darunter auch Naziks Kernfamilie, sind die täglichen Sorgen nach wie vor erdrückend: Wie werden sie ihren Lebensunterhalt sichern, wann werden sie sich wieder zu Hause fühlen, ist das überhaupt möglich, an einem Ort, der so fremd für sie ist?
Lilit, die es geschafft hat, eine Designschule in Armeniens Hauptstadt Jerewan abzuschließen, sucht immer noch nach einem Job, in dem sie das Gelernte anwenden kann. Am liebsten möchte sie im Bereich Teppichdesign arbeiten, um in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. In der Zwischenzeit besucht Naziks jüngster Sohn eine örtliche Schule und versucht, sich nach allem, was er in diesem Jahr durchgemacht hat, an den Schulalltag zu gewöhnen.
Eines von Naziks Hauptanliegen ist es nun, eine feste Arbeit zu finden, die es ihr nicht nur ermöglicht zu überleben, sondern auch einen Teil dessen wieder aufzugreifen, was sie zurückgelassen hat: ihre Leidenschaft, jungen Menschen beizubringen, wie man Teppiche herstellt. In der Zwischenzeit arbeitet sie weiter an ihrer Imkerei und hält über soziale Medien Kontakt zu Freund*innen und Nachbar*innen in Bergkarabach. Bei Gelegenheit organisiert sie auch Treffen.
Aktion gegen den Hunger in Armenien
Aktion gegen den Hunger leistet seit Beginn des Konflikts im Jahr 2020 humanitäre Hilfe in Armenien und Bergkarabach und versorgt die vor dem Konflikt fliehenden Menschen mit Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern. Diese Aktivitäten wurden um die Einrichtung sicherer Räume für Kinder und Familien sowie um soziale Schutzmaßnahmen und Aufklärung über Sprengstoff erweitert.
Zusätzlich zu unseren Maßnahmen im gesamten Südkaukasus hat Aktion gegen den Hunger immer wieder auf die Folgen aufmerksam gemacht, die entstehen, wenn diese oft vernachlässigte humanitäre Krise nicht so schnell wie möglich angegangen wird.
Text: Laurence Moureh, Aktion gegen den Hunger, aus Eriwan, Armenien