Auf dem Times Square in New York leuchten Werbeanzeigen in schillernden Farben.

„Sobald mir Optionen aufgeführt werden, bin ich in der Pflicht, mich mit diesen Wahlmöglichkeiten zu beschäftigen“

Wie funktioniert eigentlich Werbung – und hat sie die Macht, wirklich unser Verhalten zu verändern? Wir haben mit Georg Felser gesprochen, Professor für Markt- und Werbepsychologie an der Hochschule Harz in Wernigerode. Er beschäftigt sich neben Konsumentenverhalten mit Themen rund um Marketing und auch Verbraucherschutz.

Herr Professor Felser, das wichtigste zuerst: Was ist überhaupt das Ziel von Werbung?  

Prof. Dr. Georg Felser (GF): Die Ziele können sehr unterschiedlich sein, je nach Marktlage und Produktphase. Das kann zum Beispiel darin bestehen, das Produkt überhaupt erst einmal bekannt zu machen oder aber beispielsweise die Produkthandhabung bekannter zu machen. Gerade beim Beispiel Babynahrung kann ich mir das sehr gut vorstellen, dass man irgendwoher sehen muss: wie mache ich das eigentlich?  

Dann kann das Ziel natürlich darin bestehen, dass man bestimmte Assoziationen und ein Image pflegt, um sich so von der Konkurrenz abzugrenzen. Das ist wahrscheinlich der häufigste Fall.

„Je nach Ziel hat Werbung dann natürlich auch unterschiedliche Strategien.“

Prof. Dr. Georg Felser

Können Sie auf diese Strategien direkt einmal eingehen? Und vielleicht direkt schon einmal: Welche Strategien sind besonders geeignet, um Babynahrung zu bewerben?  

GF: Also ich will einmal damit anfangen, dass besonders die erste Elternschaft eine Zeit von enormer Unsicherheit ist. Dennoch sind die emotionalen Strategien – die also mehr auf das Affektive abzielen – nicht das einzige, worauf wo wir als Eltern die Antenne ausgefahren haben. Wir sind für beides sehr empfänglich: sowohl für Argumente und für Fakten und die Erfahrungen anderer, als auch natürlich für emotionale und affektive Komponenten.

Zweiter wichtiger Punkt. Bei Babynahrung und überhaupt allen Dingen, die Kinder betreffen ist, ist das besondere, dass Menschen nicht besonders preissensibel sind. Das heißt, das ist ein typisches Segment, in dem Menschen eher dazu bereit sind mehr auszugeben.  

Bedeutet das, dass ein hochpreisiges Produkt in diesem Segment sogar einen Wettbewerbsvorteil hat?

GF: Also es gibt eine ganze Menge Bereiche, wo Menschen bereit sind, hohe Preise zu zahlen – und Kinder gehören da genauso dazu wie Geschenke oder Prestigeobjekte. Die dahinterliegende Annahme ist, dass ein höherer Preis auch höhere Qualität bedeutet.  

Diese Faustregel kann bei sehr hoher Expertise zum Produkt unterwandert werden, also wenn jemand richtig Ahnung hat und eine Sache unabhängig vom Preis beurteilen kann. Aber das ist insbesondere bei Eltern eines ersten Kindes ja meist nicht der Fall, hier liegt in der Regel eine hohe Unsicherheit vor und das kann man ausnutzen.

Aber zurück zur Wirkung von Werbung…

GF: Ja, also in der Psychologie wird zwischen zwei unterschiedlichen Formen der sogenannten Verhaltenssteuerung unterschieden, die wir hier besprechen müssen. Das ist zum einen der automatisierte Modus der Verhaltenssteuerung und zum anderen der reflektierte Modus.  

Der automatisierte Modus löst affektive Reaktionen aus, das geht sehr schnell, ohne viel Nachdenken. Vieles von dem, was wir positiv oder auch negativ bewerten wird extrem schnell bewertet. Wobei ich betonen möchte, dass nicht jede automatisierte Bewertung emotional ist. Es gibt auch unbewusste Prozesse oder Entscheidungen, die mit Emotionen überhaupt nichts zu tun haben. Ein gutes Beispiel für eine nicht zwangsläufig emotionale Entscheidungsgrundlage, wäre zum Beispiel das, was wir in der Psychologie die Verfügbarkeitsheuristik nennen.

Das bezieht sich auf die Flüssigkeit, mit der ich Informationen verarbeite. Wenn mir etwas flüssig durch den Kopf geht, dann scheint mir das irgendwie wichtiger, relevanter, es muss irgendwie häufiger vorkommen, wahrscheinlicher sein – je nach Fragestellung.

Also: Das, was mir besonders geläufig ist, wozu ich direkt mehr Assoziationen habe, ist eher die Sache, für die ich mich entscheide. Das beruht zwar auch auf einem Gefühl, ist aber keine Emotion. 

DEFINITION VERFÜGBARKEITSHEURISTIK

Die Verfügbarkeitsheuristik ist eine Methode des Urteilens, bei der wir unsere Entscheidungen und Urteile danach treffen, wie leicht uns bestimmte Informationen oder Beispiele in den Sinn kommen. Das bedeutet: Ereignisse oder Informationen, die leichter zugänglich oder erinnerbar sind, werden oft als häufiger oder wahrscheinlicher eingeschätzt, selbst wenn dies nicht unbedingt der Realität entspricht. Die Verfügbarkeitsheuristik kann dazu führen, dass Menschen systematische Denkfehler machen, da die Verfügbarkeit von Informationen durch verschiedene Faktoren wie Werbung, Medienberichterstattung oder persönliche Erfahrungen beeinflusst werden kann.

Wenn ich das auf unser Beispiel übersetzen darf heißt das also: Wenn Nestlé Werbung, beispielsweise für eine Babymilch, macht und mir diese Marke sowie das Produkt durch Werbung schon oft – gegebenenfalls auch unbewusst – begegnet ist, dann fühle ich mich unbewusst eher dazu hingezogen?

GF: Richtig. An dieser Stelle würde das Unternehmen von der Verfügbarkeitsheuristik profitieren. Alternativ könnte es auch von der sogenannten Rekognitionsheuristik profitieren. Das heißt, wenn mehrere Optionen zur Auswahl stehen, entscheiden sich Menschen eher für das, was sie wiedererkennen. Einfach reines Wiedererkennen.  

Sich als Marke also schön bekannt zu machen profitiert also von diesen Mechanismen.  

GF: Im reflektierten Verhaltensmodus urteilen wir seltener auf der Basis von Faustregeln, da würden wir also nicht so sehr von diesen Mechanismen beeinflusst werden. Der reflektierte Modus entspricht eher unserem Ideal einer rationalen Entscheidung, also einer Entscheidung aus guten Gründen. Wir würden also zum Beispiel nicht bei der Verfügbarkeitsheuristik stehen bleiben und nur einfach feststellen, dass das, wovon wir mehr gehört haben oder wozu uns mehr Beispiele einfallen, auch bedeutender und besser ist. Wir würden uns vor der Entscheidung vielleicht noch fragen, warum uns eine Information leichter in den Sinn kommt und abwägen, ob das ein Grund ist, sie zu wählen.  

Ich habe Ihnen zwei Beispiele mitgebracht von Werbung von Nestlé. Können wir uns die einmal zusammen anschauen? Was fällt Ihnen hier auf?

Werbebeispiel von Nestlé zur neuen und einzigartigen Folgenahrung

 

GF: Hier wird erst einmal mit dem typischen Blickfang gearbeitet: dem Kindchenschema. Kinder werden über alle Kulturen hinweg positiv bewertet. Ein Baby-Gesicht können Sie immer benutzen, um positive Stimmung zu erzeugen. Das haben Sie hier natürlich: ein lächelndes Baby.

Dann werden in diesem Bild die körperliche Nähe und die Berührung inszeniert. Uns fehlen ja zunehmend Berührungen, gerade in den digitalen Medien, das nutzt das Marketing, indem hier stellvertretend Berührungen dargestellt werden.  

Zudem folgt die Anzeige der Blickbewegung, und zwar von links nach rechts der Leserichtung folgend: Das hübsche Bild auf der linken Seite. Der Leserichtung entsprechend würden wir mit dem Blick links beginnen und das Bild ist der Blickfang schlechthin, das passt also zusammen. Wäre das Bild rechts, würde es vermutlich ebenfalls zuerst fixiert, wenn dann aber noch der Text beachtet werden soll, müsste der Blick „den Rückwärtsgang“ einlegen – entgegen der Leserichtung. Das ist oft sehr zweifelhaft, da ist es schon sehr viel sicherer den Text rechts zu platzieren, wie hier.

Im Text finden sich Begriffe wie „Neu“, „Forschung“, „Protein“ und „immun“ – das heißt, es wird Seriosität inszeniert.  

GF: Anschließend haben wir den Marken- oder Produktnamen links unten. Das entspricht genau der Annahme, dass die Informationen, die zuerst und zuletzt aufgenommen werden, einen Erinnerungsvorteil haben.

Werden diese ersten und letzten Informationen dann auch miteinander besonders vorteilhaft verknüpft? Also hier: das niedliche Baby und der Markenname?

GF: Ja natürlich, das stimmt schon. Allerdings wäre die Assoziation mit der Marke noch enger, wenn die Markeninformation nicht auf das Bild folgt, sondern ihm vorausgeht. Assoziationen sind immer stärker mit den Dingen, die einem positiven (oder auch negativen) vorausgehen, nicht so stark mit denen, die ihnen folgen. Aber diese Regel hat die Werbung immer schon missachtet, Nestlé ist da keine Ausnahme. 

Schauen wir uns nun noch einmal dieses Beispiel an, das ich bei Nestlés Babyclub auf Facebook gefunden habe:

Beispiel einer Facebook-Werbung von Nestlé zum Thema Schlafroutine

 

GF: Diese Werbung hier setzt natürlich bei einem der Themen an, das Eltern wahnsinnig umtreibt: nämlich das schlafende Kind. Und zwar nicht nur, weil das Kind seinen Schlaf braucht, sondern weil Eltern auch ihren Schlaf brauchen. Es ist also völlig klar, dass das hier an etwas angeknüpft wird, was die Leute sehr beschäftigt.  

Die Frage nach der Werbewirkung ist ganz oft auch die Frage nach dem sogenannten Involvement, also der Bereitschaft, sich mit dem Thema der Werbung zu beschäftigen. Da muss man sich in diesem Fall wirklich überhaupt keine Gedanken machen, das beschäftigt die Leute auf jeden Fall. Wenn diese Werbung dann auch noch einem selektierten Publikum ausgespielt wird, dann können wir sicher sein: das beschäftigt die Leute wahnsinnig.

Mir fällt noch auf das in dieser Anzeige etwas fehlt, was in der anderen ja noch gemacht wurde. In der anderen Werbung stand noch in anderen Worten: Wenn das Stillen nicht infrage kommt, dann nimm halt das (Anmerkung: Produkt). Da wurde immerhin nur eine gewisse Gleichwertigkeit zwischen Stillen und Flaschenmilch suggeriert. Das wird hier schon gar nicht mehr gemacht. Hier steht nur noch: starte eine gute Nacht mit unserer Folgemilch, denn hungrige Baby schlafen nicht gut.  

Und das wird natürlich jetzt verknüpft, als ob das die eine Möglichkeit wäre. Also das finde ich finde ich ja schon ein bisschen grenzwertig, weil hier das Thema Stillen überhaupt nicht mehr angesprochen wird.  

Jetzt haben wir uns ja einige Beispiele angeschaut. Ist Ihrer Ansicht nach Werbung denn nun imstande, Entscheidungen zu beeinflussen?

GF: Da habe ich gar keine Zweifel. Natürlich ist sie imstande, Entscheidungen zu beeinflussen, indem sie beispielsweise Optionen bereitstellt oder überhaupt erst bekannt macht. Ohne dass ich von einem Produkt weiß, habe ich ja gar keinen Entscheidungszwang.  

Im klassischen Marketing wird oft argumentiert, dass Produkte lediglich bereits vorhandene Bedürfnisse befriedigen. Unsere Annahme in der Psychologie dagegen ist, dass es Bedürfnisse nicht völlig unabhängig von den Optionen gibt, sondern Bedürfnisse auch dadurch ausgebildet werden, dass man weiß, was zur Verfügung steht. Das heißt: Sobald mir Optionen aufgeführt werden, bin ich sozusagen in der Pflicht, mich zumindest einmal mit diesen Wahlmöglichkeiten zu beschäftigen. Ein sich durch neue Optionen verändernder Kontext kann sich zudem durchaus auch auf die Bewertung der Optionen auswirken.  

Das heißt bei unserem Beispiel: Dadurch, dass mir eine Alternative zum Stillen präsentiert wird, habe ich das Gefühl, als müsste  ich mich mit dieser auch zumindest einmal auseinandersetzen und bewerte die Option 1, also Stillen, durch das Vorhandensein einer Alternative möglicherweise auch anders?  

GF: Ja, das könnte passieren.  

Zudem kann Werbung unsere Entscheidung wie bereits beschrieben beeinflussen, indem sie Dinge bewertet oder Werturteile beeinflusst oder induziert. Den Empfänger eben gewissermaßen konditioniert durch einen aufwertenden, positiven Assoziationsaufbau. “Evaluatives Konditionieren“ würden wir das nennen. Das fließt natürlich auch in meine Entscheidungen mit ein.  

Vielen Dank für diese Einblicke und das interessante Gespräch! 

17. AUGUST 2024
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