Was sagen eigentlich Kinderärzt*innen zu Werbung für Babymilch? Wir haben uns mit Prof. Dr. Alfred Längler unterhalten, Leiter der Abteilung für integrative Kinder- und Jugendmedizin am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke und Vorsitzender der WHO/UNICEF-Initiative Babyfreundliches Krankenhaus. Mit dabei war Vera Hesels, Geschäftsführerin der Initiative Babyfreundlich.
Stillen: Eine gute Stillberatung ist essenziell
Herr Prof. Dr. Längler, Warum ist Muttermilch so wichtig für Babys?
Prof. Dr. Alfred Längler (AL): Ich würde die Frage umdrehen: Warum sollte sie nicht wichtig sein? Evolutionär gesehen ist das die Ernährung schlechthin für Kinder und wir haben ja grundsätzlich gelernt, dass in der Evolution kaum sinnlose oder schlechte Dinge gemacht worden sind. Muttermilch ist für Kinder deswegen die normalste und richtigste Ernährungsform, weil es die menschlichste Ernährungsform ist. Ein bisschen platt gesagt: Kälber trinken Kuhmilch, Lämmer trinken Schafsmilch, Säuglinge trinken Muttermilch.
Obwohl der WHO-Kodex dies schon seit über 40 Jahren verbietet, machen große Konzerne wie Nestlé weltweit Werbung für Babymilch. Was ist problematisch daran?
AL: Die Tatsache, dass es eine Industrie gibt, die Säuglingsersatznahrung herstellt, ist erstmal gut und richtig. Denn es gibt Mütter, die möchten nicht stillen, das bewerte ich gar nicht moralisch. Und es gibt ganz selten Mütter, die können nicht oder nicht ausreichend stillen, obwohl das „nicht Können“ bei einer guten Stillberatung wirklich die Ausnahme ist. Für diese Frauen und Kinder muss es natürlich eine qualitätsgesicherte Alternative geben.
Das Problematische an der Werbung ist die Suggestion, die Säuglingsnahrung sei der Muttermilch ebenbürtig oder sogar besser. Es wird ja teilweise sogar suggeriert, Ernährung mit künstlicher Babynahrung sei einfacher. Ist sie nicht. Die Babymilch muss man mit sich rumschleppen, die muss man warmmachen. Muttermilch ist einfach, die hat man wirklich als stillende Mutter immer bei sich.
Hygienisch schwierige Bedingungen können Babymilch gefährlich machen
So einfach ist die Zubereitung von Babymilch ja tatsächlich nicht. Was kann das für gesundheitliche Folgen für die Babys haben, zum Beispiel in Kontexten, wo die Menschen keine richtige Wasserversorgung haben?
AL: Da haben wir beeindruckende und auch bedrückende Daten, was passiert, wenn man im Globalen Süden unter schwierigen sanitären Bedingungen lebt und kein sauberes Trinkwasser hat. Die Säuglingssterblichkeit übersteigt dort ein Vielfaches die Säuglingssterblichkeit in westlichen Ländern.
Das ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass viele Kinder nicht gestillt werden, und die Ersatznahrung unter hygienisch schwierigen Zuständen angerührt werden muss. Zusätzlich fehlen diesen Kindern die Schutzfaktoren der Muttermilch, wodurch ein erhöhtes Risiko für Durchfallerkrankungen und andere Infektionskrankheiten besteht.
Die häufigsten infektiösen Todesursachen bei Kleinkindern im Globalen Süden sind Lungenentzündungen und Durchfallerkrankungen – gegen beides bietet Muttermilch einen Schutz. Die ersten Wochen im Leben eines Kindes sind die fragilsten – rund die Hälfte der Todesfälle bei Kindern unter 5 Jahren passiert in den ersten 28 Tagen. Frühes und ausschließliches Stillen ist eine der wichtigsten Maßnahmen, um Tode im Säuglingsalter zu verhindern.1
In einer neuen Studienreihe von „The Lancet“ wird erwähnt, dass tatsächlich weniger als die Hälfte der Babys noch nicht mal in der ersten Stunde nach der Geburt gestillt werden. Was muss passieren, damit das Gesundheitspersonal das richtige Wissen und die Ressourcen hat, um das Stillen zu fördern?
AL: Wenn ich jetzt einfach mal so in den klinischen Alltag reinschaue, dann gibt es immer noch viele Kreißsäle, wo es noch üblich ist, dass die Kinder erstmal gebadet werden und fürs erste Foto hübsch angezogen werden müssen.
Die wesentlichen Dinge jedoch finden nicht statt: Der unmittelbare Haut-zu-Haut Kontakt nach der Geburt und in dem Zusammenhang auch das erste Anlegen, die Anbahnung einer Stillbeziehung und der Mutter-Kind-Bindung. Deswegen sind wir von der Initiative Babyfreundlich so stark hinterher, dass genau dieser erste unmittelbare Haut-zu-Haut- Kontakt stattfindet. Es gibt viele und gute Daten, die zeigen, dass das eine erfolgreiche und gute Stillbeziehung fördert. Aktuell werden ungefähr 20 Prozent der Kinder in Deutschland in „Babyfreundlich“ zertifizierten Kliniken entbunden.
Die Politik ist gefordert
Sie sind Mitglied der Deutschen Stillkommission. Was sind ihre drei Hauptforderungen an die Politik?
AL: Ich bin nicht der Sprecher der Nationalen Stillkommission, darum ist das jetzt kein offizielles Statement, aber was wir diskutieren, ist, dass wir sehr früh eine gut qualifizierte Hilfestellung geben müssen. Das heißt, wir brauchen viel mehr qualifizierte Stillberater*innen. Lange nicht alle Hebammen haben diese Qualifikation.
Der zweite Punkt ist das Thema unmittelbarer Hautkontakt nach der Geburt. Da müssen wir Rahmenbedingungen in den Kliniken schaffen, dass das endlich als ein definiertes Qualitätskriterium gilt. Wir machen ja alle mögliche Dokumentation nach der Geburt, wir bestimmen den ph-Wert, den APGAR-Wert, wir bestimmen Geburtsgewichte, was ja alles hochgradig sinnvoll ist. Aber erst jetzt fängt es an, dass im Rahmen der externen Qualitätssicherung auch tatsächlich erhoben wird, ob ein erstes Stillen im Kreißsaal stattgefunden hat. Ein nächster Schritt wäre, dass auch Haut-zu-Haut-Kontakt regelhaft unmittelbar nach der Geburt stattfindet. Also nochmal zusammengefasst: deutlicher Ausbau und Finanzierung einer qualifizierten Stillberatung, früher Haut-zu-Haut-Kontakt, unterstützende Maßnahmen für eine gute Mutter-Kind-Bindung.
Stillen kann für viele Frauen anfangs eine Herausforderung sein. Eine Stillberatung kann daher sehr helfen. Auch zu unserer Arbeit gehört diese wichtige Aufgabe, denn die Ernährung in den ersten Wochen und Monaten eines Babys entscheidet über dessen Gesundheit.
Wie viel Geld müsste der deutsche Staat in die Hand nehmen, um alle Kliniken „Babyfreundlich“ zu machen?
AL: Es gibt ungefähr 700 Geburtskliniken, 140 davon sind bereits babyfreundlich. Mit 30 Millionen pro Jahr kämen wir schon relativ weit, davon könnte man zumindest überall eine Vollzeitkraft Still- und Laktationsberatung bezahlen.
Wenn man sich diese Summe anschaut, bei den ganzen Milliarden, die momentan im Bundeshaushalt hin- und hergeschoben werden: Für die ist das gar nichts. Das heißt, aus meiner Sicht ist das keine finanzielle Frage, ob wir in Deutschland die Qualität der Säuglingsernährung und damit das Stillen nach vorne bringen oder nicht, sondern es ist eine politische Willensentscheidung.
Vera Hesels (VH): Eine kleine Ergänzung: Die Kliniken stemmen das ja momentan alles aus Bordmitteln, die Initiative Babyfreundlich wird im Grunde als Solidargemeinschaft selbst finanziert. Wenn der Staat nur den Mitgliedsbeitrag co-finanzieren würde, sagen wir mal, die 560 fehlenden Kliniken bekämen eine einmalige Anschubfinanzierung von 5.000 Euro – dann sind das 2,8 Millionen. Daran sieht man, wie überschaubar diese Summe ist.
Die Initiative Babyfreundlich hat zum Ziel, die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) zum Stillen und zur Mutter-Kund-Bindung zu fördern und umzusetzen. Die von Babyfreundlich zertifizierten Geburtskliniken halten sich an folgende 10 Regeln2:
- Die Einrichtungen sind unabhängig von Herstellern künstlicher Säuglingsnahrung
- regelmäßige Schulung aller Mitarbeitenden, um Eltern und Kindern kompetent zur Seite zu stehen
- umfassende Beratung der werdenden Eltern zum Stillen und Bindungsaufbau
- ungestörter und ausgiebiger Haut-zu-Haut-Kontakt von Mutter und gesunden Babys nach der Geburt
- Tipps zum Stillen und zur Milchbildung
- Zufütterung von Säuglingen nur bei medizinischer Notwendigkeit
- Rooming-In: Mütter und Babys bleiben Tag und Nacht zusammen
- Das Personal hilft den Eltern, die Signale des Babys zu verstehen
- Wenn gewünscht, wird individuell zu Flaschenfütterung und Bindungsaufbau beraten
- nach dem Klinikaufenthalt folgen Einladungen zu Stillgruppen und Eltern-Kind-Gruppen
Große Konzerne bewerben Produkte ohne Mehrwert
Haben Sie als Kinderarzt bereits Erfahrung mit Einflussnahme von großen Konzernen wie Nestlé gemacht?
AL: Ja, also grundsätzlich schon. Es wird auf Ärzte, und damit auf Meinungsbildner, mehr oder weniger stark Einfluss genommen. Jedoch – und ich will jetzt nicht die Industrie in Schutz nehmen – haben sie inzwischen kapiert, dass sie in unseren Kliniken mehr oder weniger keinen Zutritt mehr haben. Das ist aber wahrscheinlich bei „Babyfreundlich“ zertifizierten Kliniken noch mehr der Fall als in einer nicht zertifizierten Klinik.
Wo sie letztlich vor allem den Fuß in die Tür reinkriegen, sind die Kinderarztpraxen. Dort werden Proben verteilt und da gibt es dann „schöne“ Dosen, wo man das Milchpulver umfüllen und zur Not auch den Kaffee drin aufbewahren kann. Das passiert ganz subtil, das fängt mit den Schutzhüllen für die U-Hefte an, wo die verschiedenen Herstellerlogos draufprangen. Die werden regelhaft verteilt und viele Eltern nehmen das in Anspruch. Das suggeriert, wenn es beim Kinderarzt steht, muss das ja was Gutes sein.
VH: Mir wurde letztens ein Beispiel einer Klinik in Nordrhein-Westfalen gezeigt. Dort verteilen sie nach wie vor die U-Heft-Hüllen und es gibt ein Willkommenspaket von Hipp mit einem Schnuffeltuch fürs Kind und Proben. Dort gibt es übrigens auch keine stillfreundlichen Zufütterungsmethoden. Ich glaube, wir müssen tatsächlich unterscheiden, was passiert in babyfreundlichen Krankenhäusern, wo es schlichtweg verboten ist, und welche Kliniken machen Tür und Tor weit auf. Viele niedergelassene Kinderärzt*innen verteilen die erhaltenen Proben, weil sie beispielsweise das Gefühl haben, einkommensschwachen Familien damit zu helfen.
Neben der Säuglingsanfangsnahrung für Babys bis zu einem Jahr gibt es eine breite Produktpalette an sogenannter Folgemilch für Kinder bis zu 3 oder 4 Jahren. Sind diese Produkte für eine ausgewogene Ernährung notwendig?
AL: Nein, die braucht die Menschheit nicht. Der Mehrwert gesundheitlich ist null, schlichtweg null. Das fängt ja schon an, dass Sie Babywasser in der Drogerie kaufen können, wo dann Hipp oder sonst was draufsteht. Das ist ja nix anderes als abgefülltes Wasser. Vollkommen unnötig. Man kann ein Kind ohne diese Produkte mindestens genauso gut, wenn nicht sogar besser und gesund ernähren.
Im Gegensatz zu dem Thema Säuglingsanfangsnahrung. Es gibt Situationen, da brauchen wir sie, das ist essenziell. Aber dann hört es auf. Also jenseits der Pre-Nahrung brauchen wir nichts mehr.
Wenn man sich die Werbestrategien anschaut: Da die Werbung für Babymilch-Produkte bis zu 12 Monaten immer strengeren Regeln unterliegt, weichen die Konzerne immer stärker auf Marketing für Folgemilch – gestalten ihre Verpackungen aber so, dass sie der Säuglingsnahrung zum Verwechseln ähnlich sehen – sogenanntes Cross-Branding. Können Sie uns dazu etwas sagen?
AL: Im letzten Jahr war ich auf einem Kongress unserer Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft Kinderheilkunde und Jungendmedizin, wo die Nahrungsmittelhersteller immer mit die größte Ausstellungsfläche haben. Ich musste feststellen, dass tatsächlich keiner für Säuglingsanfangsnahrung geworben hat, weil sie es ja nicht mehr dürfen. Trotzdem hatte ich den Eindruck „Da ist Nestlé, da ist Hipp, da ist Milupa, und die alle werben für ihre Säuglingsmilch“.
VH: Im Endeffekt sind die ganzen Folgemilchen nichts anderes als eine Produktdiversifizierung. Sie sind aus keinerlei medizinischem Grund entstanden, sondern vor allen Dingen daher, weil die Hersteller damit das Verbot umgehen können, denn die Werbung für Folgemilchen ist so gut wie nicht reglementiert. Deswegen wird man auch überall in den Werbungen und in den millionenschweren Instagram-Kampagnen immer sehen, wie eine gefilterte Dame beseelt eine Folgemilch in die Kamera hält. Und die sieht natürlich genauso aus wie die Pre-Milch. Das Werbeverbot wird im Grunde immer zahnlos bleiben, wenn wir es nicht ausweiten auf all die Folgeprodukte.
AL: Und gleichzeitig wird natürlich auch enorm Geld damit verdient. Wir haben ja diese Diskussion über die Stilldauer in Deutschland. Das heißt, eigentlich gibt es ja gar keine Diskussion mehr, denn es ist klar, dass Kinder 6 Monate ausschließlich gestillt werden sollen. Aber diese Diskussion um die 4 bis 6 Monate führen wir weiterhin nur in Deutschland. In diesen 2 zusätzlichen Monaten wird ein Milliardengeschäft gemacht, wenn Sie das hochrechnen.
Letzte Frage: Ich bekomme immer mehr den Eindruck, dass die großen Hersteller über Jahrzehnte geschafft haben, eine Art Mentalitätswandel zu schaffen und auf subtile Art das Stillen zu entwerten. Teilen Sie diesen Eindruck?
VH: Ich habe die letzten fünf deutschen Weltstillwochen über die Nationale Stillförderung mitorganisiert und muss schon sagen: Die Industrie schafft es, das Stillen insofern zu entwerten, als dass sie es immer wieder in die „Stillmafia“-Ecke stellt. Sie arbeiten bei mit (bezahlten) Accounts, die überall schreiben „Ich konnte/wollte nicht stillen und ich bin ja so unter Druck gesetzt worden, ihr seid eine Stillmafia, ihr basht Mütter“. Große Formula-Hersteller rufen Kampagnen ins Leben, die sagen „Mütter dürfen nicht verurteilt werden für Flaschennahrung“. Das ist grundsätzlich gut, aber wer schreibt denn da? Und wie bekomme ich dann denn noch wertvolle Informationen vermittelt, wenn alles als beschämender Druck ausgelegt wird?
Bei der letzten Stillwoche hat dadurch nahezu jeder Account entschuldigend geschrieben „Hallo, heute ist Weltstillwoche, falls du nicht stillst und die Flasche gibst, ist das natürlich auch nicht schlimm.“
Nicht immer hat eine Mutter, die nicht gestillt hat, eine schwere Stillgeschichte. Manche wollten es schlicht so – und das ist gut so. Aber viele tragen Bedauern mit sich herum, weil es nicht gut geklappt hat, weil sie nicht unterstützt oder schlecht informiert wurden. Und dann wird jede Information dazu mit dem Wort „Druck“, „Unfreiheit“ oder „Stillmafia“ beendet. Über diese Diskussion denke ich seit fünf Jahren nach und habe immer noch keine Handhabe. Insofern, ja, sie entwerten das Stillen, indem sie es in eine radikale Ecke schieben. Und nutzen den zukünftigen Müttern ja überhaupt nicht, die lediglich eine informierte Entscheidung treffen sollten und wollen.
Die berechtigte Wut der Frauen entlädt sich bei denen, die das Stillen laut unterstützen, statt bei den Stellen, die es eigentlich torpedieren.
AL: Man könnte es vielleicht so auf den Punkt bringen, 80 Prozent unserer Energie bringen wir dafür auf, was Frau Hesels gerade geschildert hat. Wenn wir diese 80 Prozent für Stillförderung im positiven Sinne investieren könnten, dann hätten wir die 30 Millionen, die wir vorhin genannt haben, schon fast wieder raus.
Vielen Dank für das spannende Gespräch an Sie beide!
Quellen:
1 https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/levels-and-trends-in-child-mortality-report-2021