Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit – und Neutralität: Das sind die vier Grundprinzipien der humanitären Hilfe. Doch zunehmend wird die Bedeutsamkeit der Neutralität infrage gestellt. Ein Pro und Contra.
Ja, humanitäre Hilfe muss neutral sein
von Dr. Helene Mutschler, Geschäftsführerin von Aktion gegen den Hunger
Vor allem in Kriegsregionen ist Neutralität ein sehr schwieriges und oft undankbares Unterfangen. Aktuell hat der russische Krieg in der Ukraine die Debatte um humanitäre Neutralität nochmals verschärft: Wie können wir angesichts der dokumentierten Kriegsverbrechen in der Ukraine, wie sie uns der Eröffnungsfilm des diesjährigen Human Right Film Festivals (20 Days in Mariupol) eindrucksvoll und schmerzhaft vor Augen führt, „neutral“ sein? Aber auch in Krisenregionen wie in Syrien, Äthiopien und Afghanistan, wo Menschenrechte massiv verletzt werden, taucht die berechtigte Frage auf: Darf humanitäre Hilfe neutral sein?
Für uns als humanitäre Organisation lautet die Antwort: Ja, wir müssen den Anspruch haben, neutral zu sein, wenn wir Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Weltanschauung helfen möchten. Das ist unser Mandat.
Dabei ist Neutralität kein Wert an sich, sondern eine notwendige Grundlage, um überhaupt humanitäre Hilfe leisten zu können. Unsere Aufgabe ist es, möglichst vielen Menschen in Not ein Überleben in Würde zu bieten. Das geht nur, wenn wir sicheren humanitären Zugang zu den betroffenen Gemeinden haben, um die Menschen vor Ort mit Nahrung, Wasser und Medikamenten versorgen zu können. Werden wir als parteiisch und nicht neutral wahrgenommen, ist der sichere Zugang gefährdet. Vermehrte Angriffe auf humanitäre Helfer*innen zeigen, wie real diese Gefahr ist. Wir müssen also mit allen beteiligten Akteuren sprechen und sie überzeugen, dass wir neutrale und unparteiische humanitäre Hilfe leisten.
Zur Realität gehört auch, dass es immer wieder Situationen gibt, in denen unsere neutrale Position herausgefordert wird. Als die Taliban im vergangenen Dezember ein Berufsverbot für Frauen im Hilfssektor in Afghanistan aussprachen, standen wir vor einem Dilemma: Unsere überlebenswichtige Arbeit wurde vom einen auf den anderen Tag massiv eingeschränkt, denn 400 unserer rund 1.000 Mitarbeitenden in Afghanistan sind Frauen. Insbesondere für unsere Ernährungs- und Gesundheitsprogramme sind weibliche Fachkräfte essenziell. Humanitäre Hilfe ohne Frauen? Undenkbar!
Mit Ausnahmegenehmigungen konnten auch Frauen in medizinischen Einrichtungen arbeiten. Wir haben nach Lösungen gesucht, um unsere Arbeit, die wir vorübergehend unterbrechen mussten, wieder aufzunehmen – mit unseren weiblichen Mitarbeitenden. Dabei haben wir immer wieder an die Behörden appelliert, die Ausgrenzungsmaßnahmen für Frauen zu beenden, denn sie gefährden das Leben von Millionen von Menschen.
Neutralität im humanitären Kontext bedeutet eben nicht Gleichgültigkeit, sondern das Gegenteil: Das Prinzip der Menschlichkeit leitet unser Handeln. Manchmal müssen wir schmerzhafte Kompromisse eingehen, um unser Mandat zu erfüllen: Menschenleben retten.
Nein, humanitäre Hilfe muss nicht immer neutral sein
von Hugo Slim, Senior Research Fellow am Institut für Ethik, Recht und bewaffnete Konflikte an der Blavatnik School of Government an der University of Oxford
Vier Grundsätze – Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit – gelten als die Grundlagen humanitärer Maßnahmen. Ohne sie, so heißt es, können Hilfskräfte weder legitim noch effektiv sein. Zu lange wurde vorgeschlagen, dass internationale Organisationen humanitäre Aktionen dominieren sollten, weil nur sie wirklich neutrale Dritte im Krieg sein können.
Es ist an der Zeit, diese Annahmen zu hinterfragen. Das neutrale humanitäre Modell, das heute als internationale Norm dominant ist, stammt weitgehend aus dem Einfluss der schweizerischen politischen Ideologie. Im Jahr 1815 verhandelte Charles Pictet de Rochemont, ein schweizerischer Politiker, die internationale Anerkennung der politischen Neutralität der Schweiz und schuf so den charakteristischen Wert des modernen schweizerischen Internationalismus. Im Jahr 1965 bekräftigte Jean Pictet, leitender Anwalt des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, die humanitäre Neutralität als dritten seiner berühmten „grundlegenden Prinzipien“ für die Bewegung des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds. Im Jahr 1991 wurden Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit durch die Resolution 46/182 der UN-Generalversammlung in das Dogma der Vereinten Nationen aufgenommen.
Diese vier Grundsätze definieren seither humanitäre Arbeit. Das schweizerische Modell wurde idealisiert, ist in Wahrheit aber nicht für jeden geeignet. Erstens ist politische Neutralität nach dem Völkerrecht nicht zwingend erforderlich. Die Genfer Konventionen erkennen eine Reihe von Akteuren an, von denen die meisten nicht politisch neutral sind – und von denen auch nicht erwartet wird, neutral zu sein – wie Konfliktparteien, Militärärzt*innen und zivile Vereinigungen.
Zweitens ist es für viele Hilfsorganisationen, die ausschließlich im Gebiet einer Konfliktpartei tätig sind, nicht praktikabel, Kontakte, Verhandlungen und Hilfsvereinbarungen mit anderen Konfliktparteien zu entwickeln, um sie von ihrer Neutralität zu überzeugen. Es erfordert viel Zeit, Geld und diplomatische Netzwerke, um in einem Konflikt neutral zu agieren.
Drittens ist neutrale Humanität nicht unbedingt ethisch wünschenswert, wenn wir Menschen aus guten Gründen als Feinde betrachten. Ist es vernünftig zu erwarten, dass eine syrische Hilfskraft neutral bleibt, während ihre Gemeinschaft bombardiert wird? Ist es moralisch vertretbar, dass Humanitäre angesichts von Ungerechtigkeit oder Völkermord neutral bleiben?
Das alles bedeutet, dass wir rechtlich, operativ und moralisch Partei ergreifen und dennoch Humanitäre sein können.