Der Fachtag „Hungry for Change: Can we win the fight against hunger?“ am 17. Oktober 2023 in Berlin brachte verschiedene Expert*innen aus internationalen NGOs, Ministerien, Think Tanks und der Zivilgesellschaft zusammen. Die Teilnehmer*innen – sowohl vor Ort als auch online – diskutierten über vorausschauende humanitäre Hilfe und feministische Außenpolitik. Denn obwohl klimabedingte Katastrophen Frauen, Kinder, ältere Menschen und Personen mit Behinderungen besonders hart treffen, werden sie selbst und ihre Bedarfe in Risikoanalysen und humanitären Reaktionsplänen oft unzureichend beachtet. Ein Einblick in eine rege Debatte.
Nothilfe & Geschlechtergerechtigkeit: Wie geht das zusammen?
Nach fachlichen Inputs von Fatima Halima Ahmed (Uttaran Bangladesch), Tapan Kumar Chakraborty (Aktion gegen den Hunger Bangladesch), Konstantin Klammert (Auswärtiges Amt) und Audrey Oettli (Anticipation Hub) wurden folgende Fragen intensiv diskutiert: Wie kann die von der deutschen Bundesregierung beschlossene feministische Außenpolitik dazu beitragen, dass humanitäre Nothilfeeinsätze besser den besonderen Bedürfnissen von Mädchen, Frauen und anderen marginalisierten Bevölkerungsgruppen gerecht werden? Wie können diese bereits in die Erstellung von Katastrophenplänen einbezogen werden, um ihre wichtige Perspektive und ihr Wissen einzubringen? Kann (und sollte) humanitäre Hilfe sogar gesellschaftlichen Wandel vorantreiben und eine Veränderung von Geschlechterrollen und patriarchalen Denkweisen bewirken?
Kann humanitäre Hilfe gesellschaftlichen Wandel unterstützen?
Von mehreren Redner*innen wurde die Tatsache betont, dass humanitäre Nothilfeeinsätze immer als eine schnelle Reaktion auf eine Katastrophe passierten und meist innerhalb weniger Stunden oder Tage ausgerollt würden – und dadurch die Möglichkeiten, spezifisch auf besonders betroffene Bevölkerungsgruppen einzugehen und gar strukturellen Wandel einzuleiten, enorm begrenzt seien. „Humanitäre Hilfe ist das genaue Gegenteil von gesellschaftlichem Wandel“, sagte ein teilnehmender Experte.
Dieser Position wurde jedoch auch stark widersprochen: Gerade die vorausschauende humanitäre Hilfe, im Rahmen derer im Vorhinein Frühwarnmechanismen und mehrstufige sogenannte „Early Action Protokolle“ ausgearbeitet werden, biete zahlreiche Möglichkeiten, die betroffene Gemeinschaft und lokale Expert*innen mit einzubeziehen. Die Mitarbeiterin eines weltweiten Hilfswerks berichtete von einem Beispiel aus Bangladesch, wo ein „community-led anticipatory programme“ gegen Überschwemmungen in der Monsunzeit zusammen mit den betroffenen Dörfern entwickelt wurde – mit großem Erfolg. Die Dorfbewohner*innen, vor allem auch die Frauen, waren bei der Ausarbeitung aller Schritte dabei und konnten ihre Erfahrungen und Kenntnisse einbringen.
Zwei konkrete Beispiele, wie hilfreich die lokale Führungsrolle und das kontextbezogene Wissen waren: In dem neuen Programm folgten weit mehr Familien beim Eintreten der Regenfälle der Evakuierungsaufforderung, da sie von vertrauten Frauen aus dem eigenen Dorf begleitet wurden. Wer eine Frühwarnung ausspricht und zu welchem Grad der Person vertraut wird, ist also entscheidend für ihre Wirkung. Außerdem wurde zum ersten Mal mit eingeplant, die Nutztiere auch mit zu evakuieren – die Lebensgrundlage der Familien.
„Gender-sensitiv“ vs. „gender-transformativ“ – die Feminismus-Debatte
In Bezug auf die feministische Komponente von humanitärer Hilfe entzündete sich die Debatte insbesondere an den Begrifflichkeiten „gender-sensitiv“ und „gender-transformativ“. Ist ein humanitäres Programm „gender-sensitiv“, dann berücksichtigt es die besonderen Bedürfnisse von Frauen (beispielsweise getrennte Toiletten, besondere Schutzräume in Geflüchtetencamps, psychosoziale Hilfe für stillende und schwangere Mütter etc.). Ist ein Programm jedoch „gender-transformativ“, hat es darüber hinaus den Anspruch, ungerechte Geschlechterverhältnisse zu überwinden und zu einem Wandel hin zu mehr Gleichberechtigung beizutragen.
Während im Raum Konsens vorherrschte, dass jegliche humanitäre Hilfe den Anspruch haben sollte, zu 100 Prozent gender-sensitiv zu sein, gab es unterschiedliche Haltungen zum transformativen Anspruch humanitärer Programme. Nothilfe müsse neutral und unabhängig sein, richte sich ausschließlich nach den Bedarfen der betroffenen Menschen und dürfe keine politische Zielsetzung verfolgen. Dadurch sei der Anspruch, mit humanitären Programmen Geschlechterverhältnisse zu verändern, von Anfang an zu hoch gegriffen und irreführend. Andererseits betonten weitere Teilnehmer*innen, dass manche Menschen für sehr lange Zeiträume von humanitärer Hilfe abhängig seien und man in solch langfristigen Kontexten durchaus zu strukturellem Wandel beitragen könne – und müsse.
„Gender“ darf kein leeres Versprechen sein
Offensichtlich sei das Wort „Gender“ zu einem Buzz Word geworden, betonte eine teilnehmende Wissenschaftlerin, und das berge auch Gefahren. Denn wenn viele Programme das Label „gender-sensitiv“ oder sogar „gender-transformativ“ trügen, diesen Anspruch aber gar nicht erfüllten, dann verlöre das Konzept sein transformatives Potenzial. „Und für mich ist das der Kern von feministischen Ansätzen, dass sie einen strukturellen Wandel bringen und Machtverhältnisse ändern. Wenn es einfach nur darum geht, Frauen in Projekte einzubeziehen und ihnen dadurch womöglich noch mehr tägliche Aufgaben und Arbeitsbelastung aufzubürden, dann ist das für mich kein Feminismus, sondern eine Instrumentalisierung von Frauen.“
Ein Lösungsansatz, um diesen verschiedenen Herausforderungen gerecht zu werden, ist die Nexus-Debatte. Mehrere Gesprächsbeiträge betonten die Chance von einer stärkeren Zusammenarbeit von Akteur*innen, die in der humanitären Hilfe, der Entwicklungszusammenarbeit und der Friedensförderung tätig sind. Nur wenn die aktiven Organisationen die komplexen Gründe für lokale Krisen ganzheitlich denken und alle relevanten Akteur*innen einbeziehen, können sie langfristige Veränderung anstoßen und möglich machen. Dafür – und diese Bitte richtete sich insbesondere an die deutschen institutionellen Geber – müssten auch bürokratische Hürden abgebaut und ein flexiblerer Umgang mit finanziellen Mitteln ermöglicht werden.
Lokalisierung: Mehr Macht für lokale Akteur*innen
Eine weitere spannende Frage zog sich durch die gesamte Debatte: Von wem reden wir, wenn wir von „uns“ sprechen? Wer sind „wir humanitären Helfer*innen“? Was meinen wir, wenn wir sagen „Wir kennen den lokalen Kontext nicht“ oder „Wir waren vorher noch nie in diesem Gebiet“? Viele Diskutierende betonten noch einmal die Wichtigkeit von stärkerer Lokalisierung und mehr Einbindung von lokalen Akteur*innen. „Ich als Vertreterin einer internationalen NGO, die ein Programm für Nothilfeprogramme gegen die Dürre in Westafrika leitet – ich kenne die Dynamiken und Geschlechterstrukturen in den Communities dort nicht“, sagte eine Teilnehmerin. „Ich war wahrscheinlich auch noch nie in dem Dorf, wo unser Programm dann umgesetzt wird. Doch natürlich gibt es Menschen vor Ort, die genau dieses Wissen und diese Perspektive haben. Das müssen wir noch viel stärker berücksichtigen – auch in solchen Diskussionsrunden wie heute.“
Die Hauptergebnisse der Debatte
- Die Bedürfnisse von Frauen und marginalisierten Gruppen müssen bei humanitären Einsätzen immer mitgedacht werden (gender-sensitive humanitäre Hilfe).
- Gerade die vorausschauende humanitäre Hilfe bietet die Möglichkeit, in der Planungsphase die betroffenen Gemeinschaften sowie marginalisierte Gruppen mit einzubeziehen – und dadurch potenziell eine gesellschaftliche Transformation anzustoßen (gender-transformativer Ansatz).
- Die Veränderung von Machtstrukturen und die Einleitung eines langfristigen Wandels sind zwar nicht das primäre Ziel von humanitärer Hilfe, können jedoch immer mitgedacht werden – besonders in der Zusammenarbeit mit friedens- und entwicklungspolitischen Partner*innen (Humanitarian-Development-Peace Nexus).