Mehrere aktuelle Studien bestätigen, dass unregulierte Babymilchwerbung fatale Konsequenzen für Kinder und Eltern hat. Zwar ist schon seit Jahren bekannt, dass aggressives Marketing für Flaschennahrung Mütter verunsichert und vom Stillen abhält – mit katastrophalen Folgen vor allem dort, wo Eltern Babymilchpulver nicht steril zubereiten können. Doch die neuen Studienerkenntnisse machen deutlich, wie umfassend die Werbung von Nestlé und Co. seit Jahrzehnten die Politik, das Gesundheitssystem und unsere Wertevorstellungen manipuliert. Die Autor*innen fordern ein globales Abkommen, das Werbung für Babymilch verbietet und die nationale Implementierung des WHO-Kodex weltweit vorantreibt.
Babymilch-Werbung: Das Lobby-Spiel von Nestlé und Co.
Die im Februar 2023 erschienene „Lancet Breastfeeding Series“1 zeichnet ein erschreckendes Bild der Babymilch-Branche und ihres Einflusses auf Hebammen, Ärzt*innen und Eltern. Die Studienserie beleuchtet, wie die großen Babynahrungs-Firmen jahrzehntelanges Lobbying gegenüber der Politik betrieben haben, um ihren wirtschaftlichen Spielraum zu erhalten und zu erweitern.
Laut den Forscher*innen fährt die Babymilch-Lobby eine doppelte Strategie:2 In den Hinterzimmern verhindern die Konzerne erfolgreich, dass eine wirksame gesetzliche Regulierung von Babymilch-Werbung durchgesetzt wird, während sie in ihrer Öffentlichkeitsarbeit Themen wie Nachhaltigkeit und Corporate Responsibility in den Vordergrund stellen und sich positiv zum WHO-Milchkodex und zum Stillen positionieren.
Wichtig: Die Forscher*innen betonen, dass es bei ihrer Kritik um die Macht der Konzerne und ihre unethische Werbung geht – nicht um das Produkt selbst. Manche Frauen können oder wollen nicht stillen und sind auf Säuglingsanfangsnahrung angewiesen. Wichtig ist, dass Eltern neutrale und ausgewogenen Informationen zur Ernährung ihrer Babys erhalten und frei entscheiden können.
Werbung für 3 Milliarden US-Dollar jährlich
Eine Strategie mit Erfolg, denn Werbung für Babymilch lohnt sich: Während die Werbe-Etats der Babynahrungs-Hersteller in den letzten zehn Jahren um ganze 164 Prozent gestiegen sind, erhalten heute mehr Babys und Kinder künstliche Flaschennahrung als je zuvor. 3 Milliarden US-Dollar gibt die weltweite Babymilch-Industrie jährlich für Marketingaktivitäten aus. Insgesamt generiert die Branche einen jährlichen Umsatz von 55 Milliarden US-Dollar. Der Schweizer Konzern Nestlé ist weltweiter Marktführer in dem Segment.
Perfide: die Sorgen von Eltern als Verkaufsgelegenheit
Die Lancet-Autor*innen arbeiten sehr genau heraus, mit welchen Methoden die Firmen ihre Produkte vermarkten.3 Heutzutage zielt Marketing weniger darauf ab, direkt den Verkauf von bestimmten Produkten zu bewerben, sondern vielmehr, bestimmte Narrative in den Köpfen der Zielgruppe zu verankern. Die Unternehmen greifen alltägliche Herausforderungen und Themen auf, denen fast alle jungen Eltern bei ihren Babys begegnen: Bauchschmerzen, Unruhe oder unregelmäßiger Schlafrhythmus. Statt den Eltern zu vermitteln, dass dies völlig normale und altersgerechte Entwicklungsprozesse sind, werden sie in der Werbung als Probleme verkauft – die sich mit Produkten der Herstellerfirma angeblich lösen lassen.
Dass Säuglinge in den ersten Lebensmonaten schreien und unruhig schlafen, ist völlig normal – doch natürlich machen sich viele betroffene Eltern Sorgen, ob sie ihre Lieblinge richtig versorgen. Babymilch-Konzerne nutzen dies aus und bieten spezielle Flaschennahrung an, die angeblich gegen Blähungen und Unruhe helfen soll.
So verkaufen Nestlé und Co. erfolgreich eine Vielzahl von speziellen Babymilchsorten „für sensible Bäuchlein“ oder „unruhige Schläfer“. Außerdem werden fast alle Babymilchprodukte mit Versprechen rund um Gesundheit und Entwicklung vermarktet. Besonders häufig genannt werden: die gesunde Entwicklung des Gehirns, der Augen oder des Nervensystems, die Unterstützung des Immunsystems und die Förderung des Wachstums und der Entwicklung. Mit diesen Werbeversprechen nutzen die Unternehmen wissentlich die Ängste und Sorgen von Eltern aus, um bestimmte Vorstellungen und Assoziationen bei ihnen zu verankern. Gleichzeitig geben sie ihnen das Gefühl, den Herausforderungen des Elterndaseins nur mit dem beworbenen Babymilchprodukt begegnen zu können – dabei sind die gesundheitsfördernden Eigenschaften der Produkte wissenschaftlich höchst fragwürdig.
Werbe-Check: Nur 1 von 4 Aussagen wissenschaftlich belegt
Denn eine weitere neue Studie aus dem renommierten British Medical Journal (BMJ)4 deckt auf, dass die meisten Werbeversprechen der Babymilchhersteller sehr schlecht bis gar nicht belegt sind. Ein internationales Forschungsteam hat dafür insgesamt 1.884 Gesundheits- und Nährwertversprechen auf 608 Muttermilchersatz-Produkten und den dazugehörigen Internetseiten in 15 Ländern auf verschiedenen Kontinenten untersucht.
Das traurige Ergebnis: Nur rund ein Viertel davon hat überhaupt eine wissenschaftliche Quellenangabe! Und wenn Quellen genannt werden, stehen diese zum Großteil auf wackligen Füßen: Nur gut die Hälfte der zitierten Quellen basiert auf klinischen Studien. Und fast 90 Prozent der zitierten Studien stammen von Autor*innen, die entweder finanzielle Unterstützung aus der Fertignahrungsindustrie erhalten oder direkt bei den Unternehmen angestellt sind.
Schulnote 6 für Nestlé und Co.: Im Schnitt hat nur eines von vier dieser Gesundheitsversprechen eine wissenschaftliche Quellenangabe! Damit die Großkonzerne nicht weiter Eltern mit schlecht oder gar nicht belegten Informationen täuschen können, braucht es unbedingt eine strengere Regulierung von Babymilch-Werbung.
Was Mütter und Babys wirklich brauchen: Beratung und Begleitung
Die Lancet-Autor*innen machen einen weiteren Aspekt sehr deutlich: Eine gute und unabhängige Still- und Ernährungsberatung für junge Mütter ist das A und O.5 Aktuell werden weniger als die Hälfte aller Neugeborenen innerhalb der ersten Stunde an die Brust gelegt – dabei ist das der Schlüssel für eine gesunde Stillbeziehung. Zudem erhalten nur die Hälfte aller Frauen weltweit nach der Geburt eine Stillberatung.
Gerade in den ersten fragilen Wochen ist Muttermilch ein wichtiges Überlebenselixier. Im Jahr 2020 starben 2,4 Millionen Säuglinge in ihrem ersten Lebensmonat.6 Ein grundlegender Ausbau der Stillberatung und -unterstützung auf der ganzen Welt könnte viele dieser Kinderleben retten.
Meine Milch reicht nicht? Stillberatung gefragt!
Vermeintlicher Milchmangel ist der häufigste Grund, warum Mütter im ersten Lebenshalbjahr ihres Kindes aufhören zu stillen. Denn wenn Babys unruhig sind oder viel schreien, führen Mütter und ihr Umfeld dies oft darauf zurück, dass die Mutter nicht genug Milch produzieren würde und das Baby Hunger hat. Ein großes Missverständnis! Oft haben Säuglinge andere Gründe für ihr unruhiges Verhalten und die Muttermilchversorgung reicht völlig aus. Eine professionelle Stillberatung kann betroffenen Müttern helfen, die Situation richtig einzuschätzen.
Die Autor*innen stellen klar: Die Ernährung von Babys ist nicht die individuelle Verantwortung einer jeden Mutter, sie ist eine Gesellschaftsaufgabe. Eltern neugeborener Kinder brauchen ein wertschätzendes Umfeld und unterstützende gesellschaftliche Strukturen – ganz egal, ob sie stillen möchten oder ihrem Baby die Flasche geben.
Das sind die wichtigsten Kritikpunkte der Forscher*innen
Die Marktmacht der großen Babymilchhersteller ist zu groß. Die Politik muss verbindliche Regeln durchsetzen, um den Lobbyeinfluss der Industrie einzuschränken.
Mit ihrer aggressiven Werbung verbreiten Konzerne wie Nestlé Desinformationen über die Wirkung und Notwendigkeit ihrer Flaschennahrung. Damit verunsichern sie Eltern und verhindern eine gute und unabhängige Aufklärung über das Stillen.
Die Autor*innen fordern ein globales Abkommen, das Werbung für Babymilch verbietet und die Umsetzung des WHO-Milchkodex vorantreibt.
Regierungen auf der ganzen Welt müssen die Programme zur Stillberatung von Eltern ausbauen und die Schulung von Hebammen, Ärzt*innen und Pflegepersonal fördern.
Es braucht weltweit eine bessere Unterstützung für junge Eltern und Familien. Dazu gehören ausreichender Mutterschutz, bezahlte Elternzeit und Kindergeld – sowie eine größere gesellschaftliche Wertschätzung für Pflege- und Hausarbeit im Allgemeinen.
Quellen:
1 “Lancet Breastfeeding Series”, Februar 2023, https://www.thelancet.com/series/Breastfeeding-2023
2 Baker et al., Breastfeeding Series 3, The Lancet 2023: The political economy of infant and young child feeding: confronting corporate power, overcoming structural barriers, and accelerating progress: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(22)01933-X/fulltext
3 Rollins et al., Breastfeeding Series 2, The Lancet 2023: Marketing of commercial milk formula: a system to capture parents, communities, science, and policy: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(22)01931-6/fulltext
4 Cheung et al., BMJ 2023: Health and nutrition claims for infant formula: international cross sectional survey: https://www.bmj.com/content/380/bmj-2022-071075
5 Pérez-Escamilla et al., Breastfeeding Series et al., The Lancet 2023: Breastfeeding: crucially important, but increasingly challenged in a market-driven world: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(22)01932-8/fulltext
6 https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/levels-and-trends-in-child-mortality-report-2021