Aktion gegen den Hunger Mitarbeiterin Simone Ramones im Kongo.

Corona-Krise: „Wir müssen den Menschen in Not weiter helfen“

Ein Interview mit Nothilfe-Koordinatorin Simone Ramones

Simone Ramones arbeitet seit 2016 als Nothilfe-Koordinatorin für Aktion gegen den Hunger im Kongo. Sie lebt mit ihrer Familie in Kinshasa. In der kongolesischen Hauptstadt stehen wegen der COVID-19-Bedrohung seit Anfang April große Teile des öffentlichen Lebens still. Wir haben mit ihr über die Corona-Krise gesprochen.

Simone, du leitest im Kongo das sogenannte „Emergency Response Team“ – was ist das genau?

Meine Aufgabe als Nothilfe-Koordinatorin ist es, die verschiedenen Einsätze im Land zu koordinieren – in welche Region müssen wir gehen, mit welchen Organisationen arbeiten wir zusammen, was brauchen die Menschen vor Ort? Im Grunde geht es darum, unsere Hilfe dort anzubieten, wo die Menschen sie am allermeisten brauchen. Unser Team besteht aus lokalen und internationalen Mitarbeiter*innen. 

Wie bist du in das internationale Team von Aktion gegen den Hunger gekommen?

Ich habe 2006 angefangen, für eine deutsche Hilfsorganisation zu arbeiten, das war auch im humanitären Bereich. Seit 2013 bin ich bei Aktion gegen den Hunger. Zuerst war ich in Pakistan stationiert. Seit 2016 lebe ich mit meiner Familie und zwei Kindern hier in Kinshasa. Ich habe eine sehr spannende und herausfordernde Aufgabe – darum sind wir schon seit vier Jahren hier geblieben.

Wie hat sich das Alltagsleben in Kinshasa durch den Lockdown verändert?

In normalen Zeiten ist das Leben in Kinshasa sehr angenehm, es gibt viel soziales Leben, die Stadt ist relativ sicher. Aber seit dem Lockdown hat sich viel verändert. Das wichtigste Geschäftsviertel Gombe District wurde komplett abgeriegelt, Restaurants und viele Supermärkte haben geschlossen. Die Lebensmittelpreise sind sehr stark angestiegen, von Woche zu Woche wird es teurer.

Das Schlimmste ist die Unsicherheit. Niemand weiß, wie lange der Lockdown andauern und wie sich überhaupt die COVID-19-Situation hier entwickeln wird. Die Angst ist natürlich: Wird es so schlimm wie in einigen Ländern Europas, oder gar noch schlimmer? 

Expert*innen warnen davor, dass im Globalen Süden mehr Menschen an Hunger sterben könnten als an Corona. Wie ist deine Einschätzung?

Diese Sorge ist absolut berechtigt. In Kinshasa zum Beispiel leben bis zu 90 Prozent der Bevölkerung von informellen Jobs. Sie fahren Taxi, haben Obst- und Gemüsestände, arbeiten auf dem Bau. Sie leben von Tag zu Tag. Wenn sie morgens einen Job bekommen, gibt es abends was zu essen. Wenn sie am Tag nichts verdienen, steht abends nichts auf dem Tisch. Diese Menschen sagen zu uns:

„Wenn ihr uns einsperrt, dann werden wir sicherlich bald sterben – aber nicht an Corona.“

Für diese Menschen ist der Lockdown eine Katastrophe. Sie haben kein Einkommen, kein Essen, kein Wasser. Wer kein Geld verdient, hat auch keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. 

Was für Projekte führen unsere Teams im Kongo durch und wie reagieren sie auf die Corona-Krise?

Im Kongo gibt es sehr viele humanitäre Probleme gleichzeitig: Hunger und Mangelernährung, schlechte Wasserversorgung, ein fragiles Gesundheitssystem und bewaffnete Gewalt im Osten des Landes. Viele Menschen sind auf der Flucht.

Wir behandeln Mangelernährung, verteilen Nahrungsmittel und helfen den Menschen, nachhaltige Lebensgrundlagen aufzubauen. Das Wichtigste in dieser Krise ist, dass wir unsere Hilfsprogramme weiterführen müssen. Jetzt sind die Grenzen geschlossen, es gibt keine Inlandsflüge mehr, bestimmte Gebiete sind sehr schwer zu erreichen. Aber wir geben alles, um die humanitären Programme aufrechtzuerhalten – denn die Menschen brauchen uns hier weiterhin.

Das Gesundheitssystem im Kongo ist sehr schlecht aufgestellt. Bei einem großflächigen Ausbruch von COVID-19 würde die Gesundheitsversorgung hier komplett zusammenbrechen. Ein Beispiel: Es gibt insgesamt nur 35 Beatmungsgeräte im ganzen Land!

Aktion gegen den Hunger ist keine medizinische Organisation, daher bieten wir keine direkte Behandlung von COVID-Patient*innen an. Aber wir stellen unsere Expertise in Hygiene und Infektionsbekämpfung zur Verfügung, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen. In Kinshasa haben wir in über 60 Gesundheitszentren begonnen, Aufklärungsarbeit zu leisten, eine systematische Infektionskontrolle sowie Hygiene- und Präventionsmaßnahmen einzuführen. 

Wie kann jeder Einzelne von uns internationale Solidarität zeigen?

Jeder Einzelne von uns kann etwas dazu beitragen, dass wir als globale Gemeinschaft gemeinsam und solidarisch durch diese Krise gehen. Zuallererst natürlich: Alle sollten verantwortungsvoll sein, Abstand halten und zu Hause bleiben, um das Virus nicht weiterzugeben. Für meine Generation ist es das erste Mal im Leben, dass wir wirklich das Gefühl haben, in einer existenziellen Krise zu sein, in einer gesamtgesellschaftlichen Notlage. Das hatten wir in Europa lange nicht. Und da müssen wir uns immer wieder klarmachen: Dieses Gefühl der Not und Unsicherheit hat die Mehrheit der Menschen auf dieser Welt jeden Tag.

Wir sind immer noch sehr privilegiert: In Deutschland kaufen die Menschen Pasta- und Reisvorräte für zwei Wochen und streiten sich um Klopapier. Natürlich verlieren auch in Deutschland viele Menschen gerade ihre Jobs. Aber hier im Kongo müssen manche Menschen jeden Tag dafür kämpfen, dass ihre Familie abends etwas zu essen auf den Tisch bekommt.Wenn wir uns dies bewusst machen, haben wir schon den wichtigsten Schritt zu einer solidarischen Haltung gemacht. Die ganze Welt steht vor einer gemeinsamen Herausforderung.

Lasst uns nicht vergessen, dass viele Menschen im Globalen Süden nun mehr als je zuvor auf unsere Solidarität angewiesen sind.

18. AUGUST 2024
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