Eine junge Mutter in einem Kinderkrankenhaus in Moldau hält ihr Neugeborenes schützend im Arm und lächelt in die Kamera.

Flucht aus der Ukraine: Projektbesuch in Moldau

Seit zwei Jahren ist das Leben für ukrainische Menschen nicht mehr das, was es vorher war. Zahlreiche Menschen sind seit Beginn der Invasion Russlands in die Ukraine geflüchtet – davon viele über die Nachbarländer Rumänien, Polen und Moldau. In allen drei Ländern haben oder hatten wir Teams stationiert, die sich um Geflüchtete kümmern. In Moldau sind die Bedarfe nach wie vor besonders hoch. Das kleine Land nimmt trotz großer eigener Probleme bis heute Menschen auf, die Schutz benötigen. Unsere Geschäftsführerin, Dr. Helene Mutschler, und unsere Leiterin Kooperationen & Stiftungen, Kristina Dalacker, haben sich im September 2023 ein Bild von unseren Projekten vor Ort gemacht: 

Projektbesuch in Moldau: 100.000 Geflüchtete sind noch immer da

Schon als wir am Flughafen der moldawischen Hauptstadt Chișinău eintreffen und den Parkplatz überqueren, lässt sich erkennen, dass im Nachbarland Ukraine seit Februar 2022 Krieg ist:  Meine Kollegin und ich sind umgeben von Autos mit ukrainischen Kennzeichen. Die Grenze ist nicht weit, nur zwei Autostunden, drei Stunden sind es bis Odessa am Schwarzen Meer. 700.000 Geflüchtete haben seit Kriegsbeginn den Grenzübergang Palanca passiert, die meisten sind nicht in Moldau geblieben, und doch sind es immer noch 100.000 Menschen, die hier untergekommen sind oder hin- und herpendeln, je nach Kriegsverlauf und nach Kräften. Für die drei Millionen Menschen, die in Moldau leben und mit der Ukraine das sowjetische Erbe teilen, sind seit Kriegsbeginn hohe Energiepreise und Inflation ein großes Problem, das ein ohnehin schon stark von Armut betroffenes Land einem zusätzlichen Stresstest unterzieht.  

Und deshalb haben die Nothilfe-Teams von Aktion gegen den Hunger nur zehn Tage nach Kriegsbeginn damit begonnen, die geflüchteten Familien, meist Frauen und Kinder, hier in Moldau mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln zu unterstützen. Mindestens ebenso wichtig waren Steckdosen in den Aufnahmezentren, um die Handys zu laden und um mit den Angehörigen in der Ukraine Kontakt zu halten. Unsere Teams in Moldau und der Ukraine arbeiten darüber hinaus grenzüberschreitend mit lokalen Partnern in der Region Odessa zusammen, wo in Moldau organisierte Hilfslieferungen zum Einsatz kommen.  

„Der Ort macht süchtig“: Hilfspakete und Zusammenhalt bei „Moldova for Peace“  

Die Geflüchteten, die es bis nach Chișinău geschafft haben, werden von unserem lokalen Partner, der Organisation „Moldova for Peace“, mit Lebensmittelpaketen, Babynahrung, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt. Die Familien können sich über die digitale Plattform dopomoha.md anmelden, dort angeben, was sie aktuell brauchen – und wenige Tage später die Hilfsgüter in den Verteilungszentren in Chișinău und in Bălți ​abholen. Ein solches Zentrum besuchen wir, es ist ein besonderer Ort, etwas versteckt auf dem Gelände der ehemaligen moldauischen Filmstudios „Moldova Film“ – ein riesiges Lagerhaus und Umschlagplatz für bis zu sechstausend Hilfspakete pro Tag, verpackt von unzähligen Freiwilligen und Ehrenamtlichen aus der ganzen Welt. Es sind Menschen aus Moldau, Armenien, den USA, aber auch aus Russland und der Ukraine, die hier gemeinsam an- und einpacken. 

Mitarbeitende des Warenlagers in Moldau, zusammen mit Helene Mutschler und Kristina Dalacker von Aktion gegen den Hunger.
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Bis zu sechstausend Hilfspakete verlassen täglich die Lagerhäuser in Chișinău und in Bălți, die unser lokaler Partner „Moldova for Peace“ betreut. Vor Ort konnte ich mir ein Bild von ihrer Arbeit machen und wir durften das großartige Team kennenlernen. 

„Der Ort macht süchtig“, behauptet Natalia Rahmistziuc, die Managerin des Lagerhauses. Und wir spüren es auch sofort, an der liebevollen bunten Bemalung der Wände im Eingangsbereich, am konzentrierten Arbeiten der Anwesenden, aber auch an prustenden Lachausbrüchen zwischendurch und den wachsamen Blicken, die uns folgen. Ich spreche kurz mit Tatiana Chernoivan, einer der Freiwilligen, die mit der lautesten Lache von allen. Tatiana trägt ein T-Shirt einer internationalen Hilfsorganisation und erzählt, dass alle schon hier waren, um mit ihr ein Foto zu machen, sie sei praktisch ein Weltstar. Ihr Lachen bricht jedoch, als ich sie nach ihrer Heimat frage. Es sei zu schwer, darüber zu sprechen, wie es der Familie gerade geht und wann sie vielleicht wieder hinkann. Der Schmerz zeigt sich auf ihrem Gesicht und ist fast mit Händen zu greifen. Die Gruppe fängt sie wieder auf, jemand macht einen Witz, die Anspannung löst sich. Dann wieder an die Arbeit, die Blumenbeete in der Einfahrt müssen gegossen, die gespendete Kleidung sortiert werden, alles wartet auf die nächste große Hilfslieferung, die gerade organisiert wird.  

Lernen aus dem Syrienkrieg – wie Selbstbestimmung in der Nothilfe gelingt

Wir verlassen das Lagerhaus von „Moldova for Peace“, aber Natalias Prophezeiung erfüllt sich auch für uns, tatsächlich kommen auch wir wieder, der Ort macht wirklich süchtig. Zuvor besuchen wir jedoch noch einen weiteren Projektstandort und lassen uns von unserem Kollegen Orfan erklären, wie das System der Bargeldhilfen für die Geflüchteten aus der Ukraine in Moldau funktioniert – über Gutscheine für kooperierende Supermärkte, mit deren Hilfe sich die Menschen selbst das kaufen können, was sie am Dringendsten brauchen. Bargeldhilfen haben sich als Hilfsinstrument in der Nothilfe weltweit etabliert, so auch hier in Moldau. Denn so wichtig die Lebensmittelpakete und Hygieneartikel aus dem Lagerhaus sind, die Bedürfnisse der geflüchteten Familien sind sehr individuell. Selbst einkaufen zu können gibt den Menschen auf der Flucht etwas von ihrer verlorenen Selbstbestimmung zurück und bringt Geld in die lokale Wirtschaft, ein für die Akzeptanz der Geflüchteten bei der lokalen Bevölkerung wichtiger Nebeneffekt. 

Mitarbeiter Orfan erklärt Helene das System hinter der Hilfsgüterverteilung, während sie vor einem Regal stehen.
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Unser Kollege Orfan erklärt mir, wie die Verteilung von Gütern über das Lager abläuft und warum aber auch Bargeldhilfen so wichtig sind. 

Orfan erklärt uns ausführlich das System, und nebenbei erfahren wir, dass er selbst als Kind geflüchtet ist, aus dem syrischen Aleppo in die Türkei. Dort hat er sich ein neues Leben aufgebaut und für Hilfsorganisationen gearbeitet, zuletzt insbesondere im Bereich der Bargeldhilfen, die in der Türkei Millionen syrischer Geflüchteter und den Opfern des Erdbebens von 2023 geholfen haben. Und wir finden heraus, dass es in dem ohnehin sehr internationalen Team von Aktion gegen den Hunger in Moldau noch einen weiteren Kollegen aus Syrien gibt. Dass beide ihre berufliche Expertise und ihre eigene Fluchterfahrung jetzt in Moldau für Tausende Menschen aus der Ukraine einbringen können, scheint mir sehr besonders und besonders wertvoll.  

„Mami stillt“ in allen Sprachen – warum Stillberatung gerade in Krisen so wichtig ist

In Syrien, der Ukraine und überall, wo Krieg die Menschen terrorisiert und in die Flucht zwingt, haben wir als Aktion gegen den Hunger stets besonders das Wohlergehen von kleinen Kindern und schwangeren und stillenden Müttern im Blick. Sie sind besonders fragil und auf Unterstützung angewiesen. So führt zum einen die schlechte Versorgungslage mit ausgewogenen und nährstoffreichen Nahrungsmitteln dazu, dass Mütter Probleme beim Stillen bekommen. Auch psychischer Stress und Angst sind oftmals verantwortlich für Stillprobleme – und Sorgen lassen sich kaum abstellen, wenn Mütter sich im Keller vor Bomben verstecken, um Angehörige fürchten oder in überfüllten Notunterkünften ihr Leben neu organisieren müssen. Nicht genug Milch für das Baby zu haben, führt zu zusätzlicher mentaler Belastung – ein Teufelskreis. Auch deshalb ist Stillberatung für Mütter ein Kernbestandteil unserer Arbeit in Moldau, gemeinsam mit unserem lokalen Partner „Mămica Alăptează“, was übersetzt so viel wie „Mütterchen, das stillt“ bedeutet.  

Die Organisation, 2015 von einer Journalistin gegründet, klärt Frauen über die Vorteile des Stillens auf, gibt Kurse, berät in Kliniken und in privat organisierten Stillgruppen, unterstützt on- und offline mit Tipps, praktischer Lebenshilfe und kämpft gegen Mythen rund ums Stillen. Als der Krieg vor zwei Jahren ausgebrochen ist, war sehr schnell klar, dass hier ein großer Bedarf entstehen wird. Die Stillberatungen wurden schnell auch für die Ukrainerinnen ausgeweitet, hier war die gemeinsame Vergangenheit als Teil der Sowjetunion hilfreich, denn neben Rumänisch sprechen viele Menschen in Moldau ebenso wie viele Ukrainerinnen Russisch.  

Nadejda Farima und Helene Mutschler vor einem Schild von „Mamica Alăptează“
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Nadejda Farima von „Mamica Alăptează“ hat mich mit ihrer Art begeistert: Menschen wie sie sind ungemein wichtig für die vielen stillenden Mütter, die vor dem Krieg fliehen und voller Sorge für ihre Kinder sind.

Wie die Stillberatungen ablaufen, konnte ich in einer Sozialeinrichtung für Mütter miterleben. Ruhig und resolut beantwortete die Stillberaterin Nadejda Farima die unzähligen Fragen, die eine ukrainische Mutter dort für sie gesammelt hatte, vom richtigen Zeitpunkt fürs Zufüttern über die richtige Babypflege und Informationen zu Behördengängen. Nadejda ist Ärztin und selbst zweifache Mutter, wie alle der Stillberaterinnen arbeitet sie ehrenamtlich und wünscht sich, das Netzwerk der Stillberaterinnen über die Hauptstadt hinaus ausweiten zu können. Ihre Kollegin Nata Leviţchi, die die Organisation leitet, hat genau das zum Ziel und arbeitet mit Unterstützung des Teams von Aktion gegen den Hunger daran. „Ihr helft uns zu wachsen“, sagt Nata zu unserem Team, und genau das ist eins unserer Ziele in der weltweiten Arbeit – eine aktive lokale Zivilgesellschaft mit starken Partnern vor Ort wie „Mamica Alăptează“.  

Ich begleite eine der Gründerinnen der Organisation bei ihrer Visite in einem Kinderkrankenhaus, in der kurzen Stunde sehen wir viele Mütter, die sich um die richtige Ernährung für ihre Kinder Gedanken machen: Wann und wie kann ich zufüttern oder abstillen, warum isst er keine Suppe, wie schaffe ich es, dass sie Brokkoli mag, was mache ich bei Allergien? Olga Gutium hat für alle den passenden Tipp und ein ermutigendes Wort, die Mütter wirken nach dem Gespräch erleichtert oder nachdenklich, es ist für sie und ihre Kinder eine sensible Zeit und eine verletzliche Phase im Leben. Ich bin sehr froh und dankbar, dass den Kindern und ihren Müttern so kompetent geholfen wird.

Was mir noch auffällt: Hier im Kinderkrankenhaus in Chișinău steckt jedes dritte Kinderbett in „Mascha-und-der-Bär“-Bettwäsche, der russischen Zeichentrickserie, weltweit von unzähligen Kindern geliebt und von Eltern geduldet. Ein weiteres Bild für die Absurdität dieses Kriegs, der hier nur zwei Autostunden entfernt ist.  

26. FEBRUAR 2024
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