Datteln auf einer Anlage zur Verarbeitung von Lebensmitteln: Hände ordnen die Früchte gleichmäßig an.

Leben unter Blockade: 16 Jahre in Gaza

Seit 56 Jahren besteht nun die militärische Besetzung der palästinensischen Gebiete durch Israel. Die über den Gazastreifen verhängte Land-, Luft- und Seeblockade jährt sich im Juni 2023 bereits zum 16. Mal. Die wiederholte Eskalation der Feindseligkeiten hat die grundlegende Infrastruktur, das Erbringen von Dienstleistungen, die Existenzgrundlagen und die Bewältigungsmechanismen weiter untergraben. Nach Angaben des Palästinensischen Zentralbüros für Statistik (PCBS) sind 45,9 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Gaza arbeitslos. Angaben des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung der humanitären Hilfe (UN OCHA) zufolge sind 1,3 Millionen Menschen in Gaza auf humanitäre Hilfe angewiesen. 

Träume in Gaza: Yasmeens und Ameeras Geschichten  

Anlässlich des 10-jährigen Bestehens der Gaza-Blockade hat Aktion gegen den Hunger im Jahr 2017 die Geschichten von zehn Frauen im Gazastreifen beleuchtet, die für Einkommen und Ernährung ihrer Familien zuständig sind. Diese Geschichten veranschaulichten eindrücklich die verheerenden Auswirkungen von Blockade und Krieg. Die Interviews waren Teil eines vom oPt Humanitarian Fund finanzierten Projekts, bei dem Aktion gegen den Hunger 160 Frauen unterstützte, deren Geschäfte während des Gaza-Kriegs 2014 beschädigt worden waren oder geschlossen werden mussten. Ziel war es, das verfügbare Einkommen dieser stark gefährdeten Familien zu erhöhen und sie so widerstandsfähiger gegen künftige Schocks zu machen. 

Sechs Jahre später, im Jahr 2023, haben wir uns mit zwei der Frauen erneut getroffen: Yasmeens Traum war es damals, einen erfolgreichen und beliebten Schönheitssalon zu betreiben. Ameera wollte einen Lebensmittelladen eröffnen, der groß genug ist, um den Bedarf ihrer ganzen Gemeinde zu decken. Wie geht es den beiden Frauen heute? 

Die Hände von zwei Frauen, eine lackiert der anderen die Nägel auf einem bunten Handtuch
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Yasmeen führt heute einen kleinen Schönheitssalon, eine ihrer Spezialitäten sind Nägel. Doch nur wenige ihrer Mitmenschen haben die Möglichkeit, sich von ihr behandeln zu lassen.

Yasmeen glaubt weiter an eine bessere Zukunft 

„Ich habe einen kleinen Schönheitssalon, aber er ist noch stark verbesserungsbedürftig“, erzählt Yasmeen. „Mein Geschäft wurde von der Covid-19-Pandemie hart getroffen, und während der jüngsten Eskalationen [Mai 2021, August 2022 und Mai 2023, Anm. d. Red.] waren wir auch komplett geschlossen. Auch nach dem Ende der Eskalation blieben die sozioökonomischen Probleme in unserer Gesellschaft bestehen; die Menschen haben weniger Interesse und Möglichkeiten, meinen Salon zu besuchen. Trotz der Herausforderungen glaube ich aber immer noch an mich und mein Geschäft und hoffe immer noch auf eine bessere Zukunft.“ 

Ameera versorgt ihr gesamtes Viertel mit Lebensmitteln 

„Mein Lebensmittelladen hat sich vergrößert und bietet genug Waren, um den Bedarf meines Viertels zu decken", erklärt Ameera. Sie ist stolz auf diese Leistung. Vor allem, wenn man bedenkt, welche sozialen und traditionellen Beschränkungen für die Teilnahme von Frauen am Geschäftsleben gelten. Doch sie schafft es, die Bedürfnisse des Geschäfts mit den Bedürfnissen ihrer Familie in Einklang zu bringen. Ameera musste aber auch andere Hürden überwinden: „Während der Covid-19-Pandemie mussten wir einen Monat lang schließen, und während der jüngsten Eskalationen [Mai 2021, August 2022, Mai 2023, Anm. d. Red.] hatten wir sogar ganz geschlossen. Diese Schocks wirkten sich auf meine Einnahmen aus und machten es mir schwer, meine Lieferant*innen zu bezahlen“, fügt sie hinzu. Ameera erklärt, dass es aufgrund der Kosten für die Einfuhr von Waren nach Gaza teuer ist, ihre Regale mit einer Vielzahl von Waren zu füllen. Ohne diese Beschränkungen wäre ihr Geschäft viel rentabler, erklärt sie. 

Gezielte Unterstützung ist notwendig 

Die wiederkehrende Gewalt in Gaza und die zugrundeliegenden Ursachen für die Instabilität in der Region behindern weiterhin die Fähigkeit von Menschen wie Yasmeen und Ameera, ihren Lebensunterhalt nachhaltig zu sichern. 

Ameera räumt ein Kühlregal in ihrem Laden ein.
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Mit ihrem Lebensmittelladen versorgt Ameera ihr gesamtes Viertel in Gaza-Stadt. Doch aufgrund der Blockade kann sie nicht immer alle benötigten Waren importieren. Daher versucht sie mittlerweile vieles selbst zu machen: Mit einer speziellen Verarbeitungsanlage stellt sie nun ihre eigene Dattelpaste her.

Die vielen Schocks im Gazastreifen – der Konflikt von 2014, Covid-19, die Eskalationen vom Mai 2021, August 2022 und Mai 2023 – haben die Bemühungen der Bewohner*innen des Gazastreifens, widerstandsfähige Unternehmen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, immer wieder zurückgeworfen. 

Doch gerade wer seine Familie ernähren muss, benötigt gezielte Hilfe, um die sozioökonomischen Bedürfnisse zu decken. Um Frauen wie Yasmeen und Ameera zu unterstützen, sind kontinuierliche, mehrjährige Investitionen erforderlich. Wenn die zugrundeliegenden Ursachen für die Gefährdungen nicht angegangen werden, wird den Frauen weiterhin die Chance auf wirtschaftlichen Wohlstand verwehrt bleiben. Aktion gegen den Hunger unterstützt das Geschäft von Ameera weiterhin mit der großzügigen Hilfe der spanischen Agentur für internationale Entwicklungszusammenarbeit (AECID). Ameera hat jetzt eine Anlage zur Verarbeitung von Lebensmitteln, mit der sie Dattelpaste herstellt. Der Lebensmittelladen läuft gut. 

Die Situation von Yasmeen ist jedoch schwieriger. Begrenzte Finanzierungsmöglichkeiten in Verbindung mit den anhaltenden Folgen der Blockade bedeuten, dass es ein ständiger Kampf ist, den Betrieb des Salons aufrechtzuerhalten. Yasmeen denkt über alternative Einkommensmöglichkeiten nach, um sich und ihre Familie ernähren zu können. 

Jetzt helfen

Weitere Geschichten aus Gaza: Mohannad und Jamal 

Neben Yasmeen und Ameera haben wir kürzlich zwei weitere Menschen getroffen, die mit ihren kleinen Unternehmen alles versuchen, um trotz der Blockade ein Leben in Würde zu führen. Mohannad führt eine Schreinerei in Gaza-Stadt, während Jamal als Landwirt in Khan Yunis arbeitet. Auch ihre Geschäfte werden von der Blockade des Gazastreifens, der Instabilität sowie der Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen und der begrenzten Stromversorgung stark beeinträchtigt.

Mohannad an einer Maschine in seiner Werkstatt
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Mohannad liebt es, mit Holz zu arbeiten. In seiner Werkstatt kreiert er die verschiedensten Dinge. Die kommen auch außerhalb des Gazastreifens gut bei seinen Follower*innen in den Sozialen Medien an – doch aufgrund der Import- und Exportbeschränkungen darf er sie nicht international verkaufen.

Mohannad würde gerne exportieren – doch darf es nicht  

Mohannad sieht sich mit mehreren Herausforderungen konfrontiert – dabei will er nur seinen Tischlereibetrieb über Wasser halten und ihn im besten Fall zum Florieren bringen. Mohannad stellt unter anderem Dekorationsartikel für die Inneneinrichtung, Möbel, Geschenke, Souvenirs, Kisten und Kerzenhalter aus Holz her. Aufgrund der gestiegenen Weltmarktpreise und der zusätzlichen Kosten für die Einfuhr in den Gazastreifen muss Mohannad viel mehr für seine Rohstoffe bezahlen. Darüber hinaus ist der Schreiner mit Verzögerungen oder Verboten für wichtige Materialien, Maschinen und Ersatzteile konfrontiert, die er für seine handwerkliche Arbeit benötigt. Dabei macht ihm die israelische Politik des doppelten Verwendungszwecks das Leben schwer, die die Einfuhr von Waren einschränkt, die nach israelischen Angaben für zivile und militärische Zwecke verwendet werden können. 

Ein weiteres Hindernis für Mohannads Geschäft sind die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zwischen Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland. „Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zwischen Gaza und dem Westjordanland machen es mir schwer, Wissen zu erwerben, neue Techniken zu erlernen und Marktverbindungen zu schaffen“, erklärt er. „Der Export ist einer meiner Träume. Viele meiner Facebook-Follower*innen aus der ganzen Welt fragen, ob sie meine Produkte kaufen können, aber leider kann ich aufgrund der hohen Export- und Logistikkosten nicht exportieren.“ Einige Produkte dürfen aus den genannten Sicherheitsgründen nicht exportiert werden. 

Auf die Frage, wie er mit der begrenzten Elektrizität in Gaza umgeht, erklärt Mohannad, dass durchgängig verfügbarer Strom für den Betrieb der Maschinen unerlässlich ist. „Wenn der Strom ausfällt, muss ich aufhören zu arbeiten, bis er wieder da ist.“ Derzeit haben die Menschen im Gazastreifen Zugang zu acht Stunden unterbrochenem Strom pro Tag. 

Die durch den wirtschaftlichen Abschwung verringerte Kaufkraft im Gazastreifen bedeutet, dass die Menschen kein Geld haben, um nach eigenem Ermessen Dinge wie Holzarbeiten zu kaufen. Das macht es für Geschäfte wie das von Mohannad schwierig, sich über Wasser zu halten. „Viele Menschen sind immer noch besorgt über die instabile Sicherheitslage, was bedeutet, dass sie nur das Nötigste kaufen“, sagt Mohannad. 

Jamal: Fehlender Strom und Eskalationen lassen seine Ernten verderben 

Die Landwirt*innen im Gazastreifen stehen aufgrund der israelischen Blockade und der Beschränkungen für die Ein- und Ausfuhr von Waren und Materialien vor ständig wiederkehrenden Herausforderungen. Jamal erklärt, dass der Export seiner Erzeugnisse eigentlich von entscheidender Bedeutung ist, damit er für seine Arbeit auch Gewinn einfährt. Aber er darf seine Produkte nicht immer ausfahren. In den vier Tagen vor der Eskalation im August 2022, als die israelischen Behörden den Grenzübergang Kerem Shalom schlossen und damit die Ausfuhr von Produkten und anderen Waren aus dem Gazastreifen verhinderten, musste er seine Ernte vernichten. Dies kommt häufiger vor: Frisches Gemüse muss innerhalb von ein paar Tagen nach der Ernte an die Endverbraucher*innen geliefert werden. Aufgrund von Verzögerungen am Grenzübergang und unzureichenden Kühllagern verdirbt die Ware jedoch häufig während des Exportprozesses. „Diese Faktoren drücken die Preise und erschweren es mir, Gewinn zu machen“, erklärt Jamal. Außerdem sind die Transportkosten gestiegen, was die Einnahmen aus den Exporten weiter schmälert. 

Jamal prüft die Pflanzen in seinem Gewächshaus
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Jamal kümmert sich gerne um seine Pflanzen. Es setzt ihm zu, dass er sie aufgrund der eingeschränkten Elektrizität nicht immer genügend bewässern kann oder ganze Ernten aufgrund der strengen Ausfuhrregelungen verderben. Für die Menschen in seiner Region ist sein Gemüse eine verlässliche Nahrungsquelle.

Auch die begrenzte Elektrizität stellt für Jamal eine Herausforderung dar. „Ich muss meinen Bewässerungsplan an die verfügbare Elektrizität anpassen. Weniger Strom bedeutet weniger Bewässerung, was zu Pflanzenkrankheiten führen und die Qualität sowie Quantität der Erzeugnisse schmälern kann", erklärt Jamal. Düngemittel könnten bei diesem Problem helfen, aber viele Sorten sind in Israel verboten. Die verfügbaren Düngemittel sind von minderer Qualität und erhöhen den Salzgehalt des Bodens und die Bodendegradation. 

Während militärischer Eskalationen hat Jamal keinen Zugang zu seinem Land, um es zu bewässern, zu bewirtschaften oder seine Ernte zu verkaufen, was zusätzliche finanzielle Verluste verursacht. Jamal stellt fest, dass die Bewohner des Gazastreifens seit Covid-19 und den Eskalationen im Mai 2021 und August 2022 eine geringere Kaufkraft haben. „Ich muss meine Preise immer wieder senken, damit die Kunden sie sich leisten können. Es ist sogar schwierig, Bargeld von den Großhändler*innen zu bekommen, die meine Produkte kaufen. Das bedeutet, dass ich kein Geld habe, um meine Produkte zu vermarkten oder Gewinne zu erzielen“, schließt er. 

16 Jahre Belagerung haben die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Unabhängigkeit und des Wachstums von Kleinunternehmen eingeschränkt. Häufige Erschütterungen bedrohen die ohnehin schon schwachen Unternehmen. Zugangsbeschränkungen  reglementieren und limitieren die Märkte für den Verkauf von Produkten und berauben damit Unternehmer*innen der Fähigkeit, ihre eigenen Kapazitäten aufzubauen. Humanitäre Hilfe unterstützt die Unternehmer*innen bei der Gründung, aber nur wenn die Ursachen dieser Herausforderungen angegangen werden, können die Unternehmen ihr Potenzial voll ausschöpfen. 

Die Auswirkungen einer Eskalation auf die Landwirtschaft

Nach der Eskalation im Mai 2023 im Gazastreifen und in Israel führte Aktion gegen den Hunger eine Schnellbewertung durch, an der 266 Landwirt*innen im Gazastreifen teilnahmen (93 Prozent Männer, 7 Prozent Frauen). 150 Bäuer*innen (56 Prozent der Beurteilten) meldeten Schäden an ihren landwirtschaftlichen Gütern. Es handelt sich dabei um Bäuer*innen, die Aktion gegen den Hunger unterstützen kann, dank großzügiger Zuwendungen der Europäischen Union und des Krisen- und Unterstützungszentrums des französischen Ministeriums für Europa und Auswärtige Angelegenheiten (CDCS). 

Die Landwirt*innen waren bereits von der Eskalation im Mai 2021 betroffen und erholten sich von den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, steigenden Lebensmittelkosten und den anhaltenden klimatischen Herausforderungen. Sie konnten während der fünf Tage anhaltenden Eskalation nicht auf ihre Anbauflächen zugreifen, was zu einem Produktionsverlust von 207 Tonnen führte. 

Eskalationen während der Haupterntezeit haben nicht nur Auswirkungen auf die Ernte, sondern auch auf die Arbeiter*innen, die von den Tageslöhnen abhängig sind. 

Nach Angaben des palästinensischen Wirtschaftsministeriums beliefen sich die Gesamtverluste der Wirtschaftstätigkeit im Gazastreifen aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu Arbeitsplätzen und Existenzgrundlagen auf 10 Millionen USD (9,1 Millionen Euro) pro Tag der Eskalation. Aktuell herrscht Waffenruhe zwischen Gaza und Israel.

Hilfe für Gaza und die ganze Welt
28. JUNI 2023
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