Vertreterinnen des Ältestenrats im Pankisi-Tal in Georgien beim Mittagessen

Südkaukasus: Besuch einer Region in Bewegung

Seit 1994 ist Aktion gegen den Hunger im Südkaukasus aktiv, um die Ernährungssicherheit der Menschen in der Region zu unterstützen und ihre Lebensgrundlagen zu verbessern. Unsere Geschäftsführerin Dr. Helene Mutschler hat die Projekte vor Ort besucht und dabei beeindruckende Menschen getroffen: kluge Kämpferinnen, die gemeinsam für eine bessere Zukunft arbeiten.

Wir erreichen die armenische Hauptstadt Jerewan einen Tag nach dem hundertjährigen Geburtstag von Charles Aznavour, französischer Barde und Chansonnier armenischer Abstammung. Im Verlauf der Reise lerne ich vom armenischen Kollegen Grigori Hovhannisyan, dass die Hälfte der weltweiten Prominenz armenische Wurzeln habe, von Cher über Andre Agassi bis zu den Kardashians. Grigori leitet das Büro von Aktion gegen den Hunger in Armenien, in der Region gibt es unsere Organisation schon seit den 1990er Jahren. Hilfsprogramme wurden nicht nur in Armenien und in Georgien umgesetzt, auch in Aserbaidschan liefen bis 2021 Projekte, und bis heute sind wir eine der wenigen Organisationen, die noch in der abtrünnigen georgischen Provinz Abchasien arbeiten kann.

Politisch ist viel passiert seit den Neunzigern, die drei ehemaligen Sowjetrepubliken haben sich unterschiedlich entwickelt, es gab Kriege und bewaffnete Konflikte, Fluchtbewegungen und Naturkatastrophen. Für die breite Bevölkerung war die Situation wirtschaftlich überwiegend prekär. Seit Jahrhunderten ist der Kaukasus Schauplatz geopolitischer Auseinandersetzungen zwischen Russland, der Türkei, westeuropäischen und anderen Welt- und Regionalmächten; die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und insbesondere die Folgen der im Moment endgültig erscheinenden Flucht der armenischen Bevölkerung aus der Enklave Bergkarabach im September 2023 sind Thema unserer Reise. Diese führt uns deshalb auch als Erstes von Jerewan weiter in die Grenzregion Sjunik im Süden von Armenien, in die Provinzhauptstadt Goris, wo Aktion gegen den Hunger die lokale Partnerorganisation Partnership & Teaching dabei unterstützt, Hilfsprojekte für die geflüchteten Familien aus Bergkarabach umzusetzen.

Bei unserer Ankunft ist die Provinz Sjunik in Nebel gehüllt, ein Regenschleier verhängt die Sicht auf die umliegenden Berge. Nur zwei Autostunden von Goris entfernt liegt Stepanakert, bis September 2023 Hauptstadt von Bergkarabach, jener in Aserbaidschan liegenden Provinz mit einer noch vor einem Jahr mehrheitlich armenischstämmigen Bevölkerung.

Die jahrzehntelange Auseinandersetzung um die Region scheint derzeit entschieden – im September 2023 gelang es der aserbaidschanischen Armee, die Provinz einzunehmen. Etwa 100.000 Bewohner*innen machten sich daraufhin innerhalb von fünf Tagen auf die Flucht nach Armenien und ließen ihre Häuser, ihr gesamtes Leben hinter sich. 6.000 von ihnen sind in der Grenzprovinz Sjunik geblieben, denn hier ist die Heimat nicht weit, die lokale Bevölkerung spricht einen ähnlichen Dialekt, die Fremde wirkt nicht ganz so fremd.

Shuttle: ein Vehikel für den Neuanfang im Südkaukasus

Die Partnerorganisation von Aktion gegen den Hunger betreibt hier ein Gemeindezentrum mit einem Schutz- und Spielraum für Kinder, verteilt Supermarktgutscheine an die Eltern, betreut die Familien und insbesondere Alleinerziehende und Menschen mit Behinderungen psychosozial und unterstützt die Geflüchteten dabei, sich in den armenischen Arbeitsmarkt zu integrieren. Denn wie überall ist neben bezahlbarem Wohnraum die Suche nach einem Job, einem Auskommen die große Herausforderung für die Familien. Aktion gegen den Hunger hat für Menschen in solchen Krisensituationen ein eigenes Programm entwickelt, das den Namen Shuttle trägt – wie ein Shuttle soll es die Menschen aus der Krise in ein neues Leben transportieren, ein Vehikel für den Neuanfang.

Konkret bedeutet das, dass in zweiwöchigen Gruppenkursen und durch Eins-zu-eins-Betreuung Geflüchtete darin unterrichtet werden, wie man im neuen Arbeitsmarkt beispielsweise einen Lebenslauf schreibt und ein Jobinterview erfolgreich meistert, wie man sich in ein neues Team integriert (Profi-Tipp aus Goris: Gemeinsamkeiten suchen!), wie man Social Media bei der Jobsuche nutzt und was man dabei vermeiden sollte, wie man einen Businessplan erstellt und Förderungen findet.

Der Fachbegriff heißt Soft Skills, in einem hart umkämpften und gleichzeitig fremden Arbeitsmarkt mit eigenen Regeln und informellen Gepflogenheiten sind solche Soft Skills eine harte Währung. Das Shuttle-Programm ist von unseren spanischen Teams entwickelt worden und wird schon seit Jahrzehnten weltweit umgesetzt, mit messbaren Erfolgen, auch im Südkaukasus: mehr als 60 Prozent der Teilnehmer*innen finden im Anschluss einen Job, bis zu 20 Prozent gründen ein Kleinunternehmen und schaffen damit einen langfristigen Ausweg aus der Abhängigkeit und Ohnmacht einer Fluchtsituation.

Gemeinsam gegen das Trauma

Und noch ein zentraler Aspekt des Programms wird auf unserer Reise deutlich, eine Nebenwirkung zwar, die aber für die Motivation der Teilnehmenden oftmals die Hauptrolle spielt: In den Gruppenstunden finden die Menschen Raum und Zeit, das Erlebte gemeinsam zu verarbeiten, die traumatischen Erfahrungen zu besprechen, erfahren Solidarität, Verständnis und Unterstützung untereinander. Sie öffnen sich, fangen an, die anderen nach Rat zu fragen, Netzwerke zu bilden und sich gegenseitig zu helfen.

In Goris ist das für uns sofort spürbar: Der Kursraum ist voll, es wird viel gelacht und diskutiert, sich gegenseitig aufgezogen und aber auch supportet, man kennt sich inzwischen gut und weiß, welche Anliegen und Themen die anderen beschäftigen. Die Kursleiterin berichtet, dass zu Beginn des Kurses vor ein paar Wochen Stille im Kursraum herrschte, die Teilnehmenden waren in sich gekehrt und verschlossen. Inzwischen sei der Austausch untereinander zentral, wie sie sich gegenseitig beraten und das Gelernte miteinander ausprobieren.

Einige wollen ein eigenes Business eröffnen, schneidern oder backen zum Beispiel. Ich bin auf Anhieb vom Businesskonzept einer Kosmetikerin überzeugt, die sich selbständig machen will mit einem Full-Service-Angebot: „Du kommst wie du bist und gehst wunderschön“. Dass die Freude im Shuttle-Kurs auch hart erarbeitet ist, merkt man bei den Gesprächen mit einigen Müttern im Raum nebenan: Sie berichten, was der Krieg, die monatelange Blockade und schließlich die Flucht bei den Kindern angerichtet hat.

Zu hören, dass die Kinder täglich fragen, wann sie wieder nach Hause können und jeden Tag über ihr altes Zuhause sprechen, über die alte Schule, den Kindergarten oder die Haustiere, die sie zurücklassen mussten, ist bedrückend und herzzerreißend. „Wir tragen unsere Erinnerungen jederzeit mit uns“, fasst eine Mutter ihren Gemütszustand zusammen.

Dank der Unterstützung durch unsere Partnerorganisation Partnership & Teaching, dank sicheren Spielmöglichkeiten, dank Kunsttherapie und psychologischer Beratung sind die Kinder jedoch ruhiger geworden, berichten die Mütter. Während der neunmonatigen Blockade des Latschin-Korridors 2022-2023, bei dem die Versorgung von Bergkarabach mit grundlegenden Lebensmitteln und Medikamenten unterbrochen war, seien sie viel aggressiver gewesen, wenigstens das ist jetzt besser. 

„Wir sollten uns auf das Leben konzentrieren, wir müssen stark sein“ redet eine Mutter sich gut zu, die einen Moment davor noch die hinterlassenen Gräber der Angehörigen in Bergkarabach beweint hat. Alle Emotionen sind gleichzeitig da, und die Gruppen und Gespräche helfen, damit umzugehen. Wie gut, dass die Partnerorganisation mit ihrer mehr als 20-jährigen Erfahrung in der Region und unsere armenischen Teams von Aktion gegen den Hunger da sein können, um diesen Zufluchtsort zu einem Ort des Neuanfangs zu machen.

Von der Zahnärztin zur Bienenzüchterin in Armenien

Was in Goris auffällt und sich beim Besuch ähnlicher Projekte in Jerewan, der Hauptstadt Armeniens, bestätigt: Es sind vor allem Frauen, die Hilfsangebote wie das Shuttle-Programm annehmen. Das ist auch gut so, sie profitieren enorm. Gleichzeitig bemühen wir uns, mehr Männer dazu zu bringen, mitzumachen. Denn ihnen fällt es oft schwerer, tradierte Geschlechterbilder abzulegen, Hilfesuchen ist vielerorts stigmatisiert. 

Und so sind es im Shuttle-Programm unseres zweiten Partners Mission Armenia ausschließlich Frauen, die hier neue Soft Skills erlernen und sich gegenseitig unterstützen. Hier sind es eher Akademikerinnen, die nach einer neuen Beschäftigung in der Hauptstadt suchen, auch hier sind die Ideen jedoch eher handfest: Eine Zahnärztin will Bienenzucht ausprobieren, ehemalige Beamtinnen einen Schönheitssalon eröffnen, was zuerst überraschend klingt, dann aber nach einer smarten Businessidee, wenn man sich die vielen sehr gepflegten Fingernägel überall in der Stadt anschaut.

Marcella Maxfield, die Regionaldirektorin von Aktion gegen den Hunger im Kaukasus, erklärt in diesem Zusammenhang die postsowjetischen Gehaltsstrukturen in der Region: Ärzt*innen oder Lehrende verdienen häufig sehr schlecht, es ist also gut möglich, mit einem Maniküre-Salon mehr Geld zu verdienen als in dem ursprünglich gelernten akademischen Beruf. „Wir müssen die Veränderungen selbst anstoßen“, sagt eine Teilnehmerin, „es liegt in unseren Händen“.

Die Kraft, die es die Frauen gekostet haben muss, zu diesen Erkenntnissen zu gelangen, nach allem, was sie durchgemacht haben, ist sehr beeindruckend. Und zum Glück gibt es für sie auch hier in Jerewan Shuttle-Starthilfe durch einen unserer lokalen Partner, die Organisation Mission Armenia. „Am Anfang wollte ich das Haus nicht mehr verlassen“, berichtet eine Teilnehmerin. „Seit ich mich überwunden habe und an dem Kurs teilnehme, bin ich glücklich.“ 

„Mein Mann sagt, ich soll am besten gleich hier einziehen“, lacht eine andere Teilnehmerin. Manche Frau wird auch poetisch: Von schwarz zu bunt gewandelt habe sich ihr Gemütszustand. Und außerdem habe sie hier verinnerlicht: Morgen ist auch noch ein Tag – auch das eine hilfreiche Erkenntnis in der Krise, wenn die Trauer oder Überforderung einen überrollt.

Ein menschenwürdiges Leben auch im Rentenalter

Im Nebenraum des Gemeindezentrums von Mission Armenia besuchen wir noch Beschäftigungsprogramme für Seniorinnen, die sich in der Woche hier treffen, um zu basteln, eine Art Bingo zu spielen und zu singen. „Ich gehe richtig gerne in diesen Rentnergarten“, lacht eine von ihnen. „Jedes Wochenende kann ich es kaum erwarten, dass endlich wieder Montag ist.“ 

Und diese Freude sprudelt auch aus der Vizepräsidentin der Organisation, Alla Harutyunyan, die uns durch das Gemeindezentrum führt. Begonnen hat die Anwältin und Menschenrechtlerin hier 2001 als ehrenamtliche Unterstützerin. Inzwischen betreibt die Organisation 28 solcher Zentren mit 400 Mitarbeiter*innen, in denen in erster Linie Geflüchtete, Asylsuchende, Senior*innen und Menschen mit Behinderungen besondere Zuwendung finden. 

Alla hat schon Verfahren vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof geführt und für ein menschenwürdiges Rentengesetz in Armenien lobbyiert. „Es gab keinen Tag, an dem ich meine Entscheidung, hier mitzumachen, bereut habe“, berichtet sie uns. Und so wie sie das alles erzählt, würde es mich nicht wundern, wenn auch sie sich jedes Wochenende schon auf Montag freuen würde.

Was Aktion gegen den Hunger in Armenien noch macht, ist dafür zu sorgen, dass die geflüchteten Familien einigermaßen menschenwürdigen Wohnraum finden. Das ist hier keine leichte Aufgabe, viele Gebäude sind marode, mit kaputten Wasserleitungen und verrosteten Sanitäranlagen. In enger Zusammenarbeit mit den lokalen und zentralen Behörden sanieren und reparieren wir Wohnhäuser und Apartments, damit die Familien in halbwegs akzeptabler Umgebung leben können. Denn die Winter sind kalt, die Sommer heiß, die Klimakrise sorgt für regelmäßige Überflutungen in den Bergregionen, Waldbrände sind auch hier ein Thema. 

Und ein besonders wichtiger Aspekt der Arbeit von Grigori und seinem Team ist noch erwähnenswert: Die Grenzregionen zu Aserbaidschan sind voller Minen, Blindgänger und Militärschrott. Deshalb machen unsere Teams und Partner besondere Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit in den Schulen, die sich in diesen Grenzregionen befinden. Damit die Kinder wissen, worauf sie beim Spielen achten sollen, was gefährliche Gegenstände sind und wie man sich in Gefahrensituationen am besten verhält – Hard Skills der besonderen Art.

Ohne eine starke Zivilgesellschaft gibt es kaum Perspektiven für Georgien

Unsere Weiterreise durch Georgien ist überschattet von den politischen Entwicklungen rund um das sogenannte Ausländische-Agenten-Gesetz und seine möglichen Folgen für die Zivilgesellschaft. Auch wenn viele Details noch unklar sind, eins ist jetzt schon offensichtlich: Ohne eine starke Zivilgesellschaft gibt es kaum Perspektiven für die georgische Bevölkerung, die Entwicklungserfolge der vergangenen Jahre fortzusetzen. 

Sowohl bei den Gesprächen in der Hauptstadt als auch bei unserem Projektbesuch im an Tschetschenien grenzenden Pankisi-Tal, Heimat der muslimischen Minderheit Kist, sind die Sorgen groß. Wir besuchen hier von Aktion gegen den Hunger unterstützte Kleinunternehmen wie eine Bierbrauerei für alkoholfreies Bier für die muslimische Bevölkerung des Tals oder Gasthäuser für den wachsenden Tourismus und andere einkommensschaffende Maßnahmen, die den Menschen langfristig ein selbstbestimmtes Leben ohne Hunger ermöglichen.

Das Mittagessen mit Vertreterinnen des Gemeinde-Ältestenrats, ein Zusammenschluss von Frauen Ü-45, die sich für die Frauenrechte in der Region einsetzen, ist schwer verdaulich: „Als würde die Berliner Mauer wieder hochgezogen“, so schätzt eine der Frauen die aktuelle politische Entwicklung ein. 

Wie das ist, hinter der Mauer zu leben, kennen diese Frauen hier nur zu gut. Einst hinter dem Eisernen Vorhang in der Sowjetunion, anschließend hinter den engen patriarchalen Mauern, die die Radikalisierung eines in dieser Region zuvor eher toleranten Islams durch salafistische Einflüsse errichtet hat, und jetzt die politische Ungewissheit. Aber: Wir sind Kämpferinnen, sagen die Frauen hier von sich. Angesichts des schon Erreichten und der Härte der Themen, mit denen sie es zu tun haben, glaube ich ihnen aufs Wort. Und will es mit ihnen und für sie auch sein.

5. DEZEMBER 2024
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